Die Stimmung außerhalb des ehemaligen Einkaufszentrums in Hala Kijowska ist ausgelassen. Helfer in gelben Westen lachen, rauchen und bringen Essen und Windeln in das Innere der Halle. Doch die ausgelassene Stimmung draußen täuscht. Die Menschen, die sich im Inneren befinden, haben die schrecklichsten Erfahrungen im Ukraine-Krieg gemacht. Helferinnen und Helfer berichten mir, dass hier vor einer Woche noch Chaos herrschte. Es gab keine Systematik, Daten wurden nicht aufgenommen, die Menschen rangen um Nahrung und einen Schlafplatz. Selbst ein achtjähriges Kind ging im Getümmel verloren und konnte erst Stunden später im Zentrum wiedergefunden werden – es hatte sich verirrt.

Heute, am 22. März, scheint alles viel professioneller zu sein. Das liegt daran, dass sich deutlich weniger Menschen in den Hallen des ehemaligen Einkaufszentrums befinden und die Teams hier ein System gefunden haben. Niemand kommt unkontrolliert in das Aufnahmezentrum rein. Kosta ist Ukrainer, eigentlich er lebt in Warschau. Nun ist er freiwilliger Helfer in Hala Kijowska. Seinen Job in Warschau hat er gekündigt, um hier zu unterstützen. Im Aufnahmezentrum ist er ein „Allrounder im Lösen von Problemen“. Gemeinsam mit ihm schauen wir uns um. Es gibt ein kleines Restaurant, ein Café, einen Spielraum für Kinder, eine Krankenstation und zahlreiche riesige Hallen, in denen die Menschen schlafen. Hier reiht sich Feldbett an Feldbett. 

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CARE-Helfer Stefan Brand vor dem Aufnahmezentrum im polnischen Przemysl.

Kosta führt uns zu zwei jungen Frauen, die sich bereiterklärt haben, ihre Erfahrungen der letzten Tage zu teilen. Sie sprechen mit uns über den Krieg und ihre ungewisse Zukunft. Anja ist 24 Jahre alt und gemeinsam mit ihrem vierjährigen Sohn Dominik und ihrer Stiefschwester, die ebenfalls Anja heißt und 19 Jahre alt ist, geflüchtet. Die Familie kommt aus Wassylkiw, einem Ort im Süden von Kyiv, der besonders umkämpft ist.
 
Dominik war ganz aufgeregt und fasziniert, als er die ersten Panzer sah. Er wusste nicht, was das für schreckliche Waffen sind“, erklärt die 24-Jährige Anja mit festem Blick. Sie berichtet von bewaffneten Gruppen, die in ihrem Garten und benachbarten Gärten gelandet seien, in Häuser einbrachen und alles plünderten. „Handys, Essen, egal was, sie nahmen alles mit“, fügt sie hinzu.

Als die bewaffneten Gruppen kamen, versteckte sich Anja gemeinsam mit ihren Schwiegereltern in verschiedenen Schränken im Haus. „Wir hatten eine unglaubliche Angst, dass wir sterben würden. Mit unseren Handys haben wir uns von Schrank zu Schrank verständigt. Ich hatte nur noch 2 Prozent Akku. In dieser Nacht habe ich mich mehrfach von meinen Freunden verabschiedet. Ich dachte, wenn jemand den Schrank öffnet, ist das mein Ende“, erklärt die 24-Jährige. Wie durch ein Wunder geschah dies nicht. Als die bewaffneten Gruppen weg waren, rief Anja sofort die Polizei. Doch selbst die Polizei sagte ihr, dass sie ihr und ihren Schwiegereltern nicht helfen könne, da es in ihrer Nachbarschaft aktuell zu gefährlich sei. 

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Für Anja und ihre Stiefschwester Anja (l.) war es nicht leicht, das sichere Polen zu erreichen. Mit dabei hatte sie ihren kleinen Sohn Dominik.

In Wassylkiw gibt es wenig offizielle Schutzbunker. Die meisten Menschen müssen in ihren eigenen kalten Kellern ausharren. Viele, die versuchten aus ihren Kellern in die offiziellen Schutzbunker zu fliehen, wurden erschossen. „Freunde, die es geschafft haben, berichten, dass die Flucht zu den Schutzräumen einer Lotterie glich. Man konnte nicht sicher sein, ob man es lebendig schafft oder nicht“, erklärt die 19-Jährige Anja.

Nachdem sie einige Tage in ihrem Keller ausgeharrt hatten, schaffen es die beiden Frauen gemeinsam mit Dominik raus aus der Stadt. Anjas Mann fährt sie nach Lviv. Dort kommen sie 30 Minuten vor der Sperrstunde an – ohne Ziel oder ein Dach über dem Kopf. Sie wissen nicht, wohin sie gehen sollen.
 
Weil sie keinen anderen Schlafplatz finden können, schläft die Familie eine Nacht in einer Entzugsklinik für Drogenabhängige. „Wir hatten solche Angst. Die Türen werden dort um 20 Uhr geschlossen. Du fühlst dich wie im Gefängnis. Männer boten uns Essen an, aber wir hatten Angst, es könnte vergiftet sein“, erklärt die 19-Jährige Anja. „Nach der schwierigen Flucht aus unserem Heimatort war das ein schreckliches Erlebnis für uns.“

Am Morgen bricht die Familie sofort zur Grenze auf. Nach kurzer Zeit kommen Anja, Anja und Dominik im Aufnahmezentrum Hala Kijowska an. „Seitdem wir geflohen sind, habe ich keine einzige Träne vergossen“, sagt die 24-Jährige Anja.

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In dem polnischen Aufnahmezentrum können sich Geflüchtete aus der Ukraine für 24 Stunden ausruhen. Danach geht es für viele weiter.

Im Aufnahmezentrum selbst fühlen sich die beiden Frauen und Dominik jetzt sicher. „Es ist immer noch komisch keinen Alarm, Schüsse oder Bomben zu hören. Wir bekommen hier alles kostenlos, das ist wirklich ungewohnt“, sagt die 19-Jährige Anja mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. Obwohl beide alles verloren haben und auch für die kommenden Tage und Wochen keine Perspektive sehen, möchten sie mir etwas geben. Ich versuche abzulehnen, doch ich merke, dass es ihnen wichtig ist, mit mir zu teilen. Anja, 19, zieht stolz ein Stück Schokolade aus ihrem Rucksack, dass sie in einer speziellen Manufaktur in Lviv gekauft hat. „Die beste Schokolade, die es gibt“, sagt sie. „Gut für das Herz und die Seele“. Ich breche mir ein kleines Stück ab und es verschlägt mir die Sprache, dass die beiden jungen Frauen das Wenige, das sie aktuell bei sich haben, mit mir teilen. Erst nach ein paar Minuten kann ich mich von den beiden verabschieden. Draußen vor dem Aufnahmezentrum sehe ich feixende Helferinnen und Helfer. Das hilft mir, mich wieder zu sammeln und weiterzumachen.

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