Elcin steht vor den Trümmern ihrer zerstörten Stadt.

Die ersten 90 Sekunden

Elcin, 38, ist wach und liegt mit ihrer achtjährigen Tochter Elena in ihrem Bett, als das Haus in der türkischen Provinz Hatay heftig zu beben beginnt. Elcin ruft die Namen ihres Sohnes und ihrer Eltern, die in einem anderen Zimmer schlafen. Sie versucht aufzustehen, aber es ist unmöglich, das Gleichgewicht zu halten. Ihr Sohn ruft, dass sie das Telefon mitnehmen sollen, während sie versuchen, ihre Wohnung im ersten Stock zu verlassen. Dann fällt der Strom aus. Es ist so laut, dass Elcin vorübergehend ihr Hörvermögen verliert. „Ich hatte solche Angst um meine Kinder. Ich habe schon viele Erdbeben miterlebt, aber dieses war anders. Es war wie ein Donnerschlag und der Boden bewegte sich in alle Richtungen. Ich habe meine Tochter während des Bebens ganz fest umarmt“, erinnert sich Elcin. Dann stürzt die Decke über ihnen ein.

Elcin steht vor Trümmern.

Die ersten 12 Stunden

Die rechte Seite ihres Körpers ist unter den Trümmern eingeklemmt. Es ist völlig dunkel, aber sie kann ihre Tochter Elena noch mit dem linken Arm berühren. „Ich konnte nichts sehen, aber ich konnte den Staub der Trümmer riechen, und er lag schwer in der Lunge“, erinnert sich Elcin. Dann beginnt es wieder zu Beben. Ein Nachbeben. „Ich konnte meine Mutter und meinen Sohn nicht hören und wusste nicht, wo sie sind, als unser Haus einstürzte.“ Sie ist in der Lage, mit ihrer Tochter zu sprechen. Elena sagt, dass sie nicht sterben will. Elcin versucht sie zu beruhigen und sagt ihr, dass sie überleben werden und alles gut wird. „Ich fühlte es, als meine Tochter starb. Wir waren 12 Stunden lang eingeschlossen und dann war sie weg. Als ich allein war, wollte ich nicht mehr leben“, sagt Elcin. Obwohl es völlig dunkel ist, weiß sie die genaue Zeit, in der es geschah, durchs Zuhören. Sie kann die morgendlichen und abendlichen Gebetsrufe hören, obwohl alle Moscheen in ihrer Umgebung ebenfalls eingestürzt sind. Sie hat keine Erklärung dafür.

Der zweite Tag

Am zweiten Tag, an dem sie unter den Trümmern gefangen ist, hört sie Stimmen über sich. „Die Leichen der Menschen, aus dem zweiten und dritten Stock meines Gebäudes, wurden gefunden. Ich konnte ihre Familienangehörigen schreien hören, als sie begannen, sie herauszutragen“, erinnert sich Elcin. Sie versucht, nach ihnen zu rufen, aber sie hat keine Kraft mehr in ihrer Stimme.
 

Der vierte Tag

Die Tage vergehen in Dunkelheit. Das Atmen ist schwieriger geworden. Es ist kalt und Wassertropfen treffen sie. Dann hört sie plötzlich die Stimme ihres Ex-Mannes über sich, er ruft ihren Namen und den seiner Kinder. „Er hat mir gesagt, dass mein Vater überlebt hat, aber dass sie meine Mutter und meinen Sohn noch nicht gefunden haben. Um 13:13 Uhr erreicht mich das technische Team, aber ich sagte ihnen, sie sollen zuerst den Körper meiner Tochter herausholen. Ich wollte nicht, dass sie länger hier liegt“, sagt Elcin. Seit 81 Stunden ist sie unter den Trümmern gefangen. Ihre verstorbene Mutter und Sohn werden erst vier Tage später gefunden.

Elcin sitzt auf der Matratze ihres Containers.
Elcin geht durch Containerstadt.

Jetzt, sechs Monate später

Elcin und ihr Vater leben in einem 7 mal 2 Meter großen Container in ihrer Nachbarschaft. „Das Leben in einem Container ist hart. Es sind nur vier weiße Wände, aber kein Zuhause. Ich hatte Angst, die öffentlichen Duschen im Freien zu benutzen, weil das für mich als Frau gefährlich ist, also habe ich mir eine eigene Dusche im Container gebaut“, sagt Elcin.

Derzeit hat sie keine finanzielle Unterstützung. Die Zeitung, für die sie früher arbeitete, stellte nach dem Erdbeben ihre Arbeit ein, da das Gebäude schwer beschädigt wurde. Viele sagen, dass das Erdbeben vorbei ist, aber das ist es nicht. Wir leben immer noch in Zelten und Containern. Es wird lange dauern, bis wir wieder zur Normalität zurückkehren, aber selbst dann werde ich nie wieder normal leben können“, sagt Elcin. Die psychologischen Auswirkungen des Erdbebens betreffen viele, die traumatische Erfahrungen gemacht, Angehörige verloren oder miterlebt haben, wie eine ganze Stadt um sie herum zusammenbricht.

Elcin zeigt ihr Tattoo ihrer verstorbenen Kinder.

Die Stadt, in der Elcin lebt, ist bis auf die Grundmauern zerstört. Die noch stehenden Gebäude stehen leer. Noch immer stürzen täglich Häuser ein. Die Straßen sind durch Trümmer blockiert. Das Leben spielt sich überall in der Stadt in Zelten und Containern ab. Jeder, der in dieser Stadt lebt, ist betroffen. Das Erdbeben hat ihre Häuser, ihre Arbeitsplätze, ihre Märkte und Schulen zerstört. „Ohne Unterstützung hätten wir nichts“, sagt Elcin. CARE hat Wasserflaschen und ein Küchenset an Elcin und ihren Vater verteilt. „Wasser ist so wichtig, denn Wasser ist Leben“, sagt sie.

Elcin öffnet ihr Handy und scrollt durch die Fotos ihrer Kinder. Eine Tätowierung auf ihrem rechten Arm zeigt die beiden mit leeren Gesichtern. Für die Ewigkeit eintätowiert. „Alles hat sich verändert, aber ich möchte mich an die Mütter verlorener Kinder wenden und hoffen, dass für uns bessere Tage kommen werden“, resümiert sie.

So hilft CARE

Bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben begann CARE mit umfassenden Nothilfemaßnahmen. Durch die Verteilung von Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Hygienesets, Küchenutensilien und Latrinen sowie durch die Bereitstellung von Schutzeinrichtungen, Unterkünften und sicherem Zugang zu sanitären Anlagen konnten Tausende Menschen in mehreren vom Erdbeben betroffenen Provinzen der Türkei und Syriens unterstützt werden. Für den Umgang mit Traumata bietet CARE Betroffenen außerdem psychosoziale Unterstützung an.

Bitte unterstützen Sie die Hilfe von CARE in den Erdbebengebieten mit Ihrer Spende!

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