Eindrücke aus einer neuen Realität

von Anica Heinlein, Referentin für Advocacy bei CARE Deutschland

Anica Heinlein im Feld.

Die Krankheit hat sich langsam an mich herangeschlichen. Nachdem ich täglich mit den humanitären Krisen der Welt befasst bin, habe ich relativ lange die Nachrichtenlage zu diesem Thema vernachlässigt und maximal die Überschriften zur Situation in den Nachbarländern gelesen. DerIrak, Jemen und Syrien waren mir als politische Referentin für humanitäre Krisen einfach näher. Nun hat sich Corona - zunächst fast unbemerkt - durch die Hintertür gemogelt und steht jetzt, seit zehn Tagen, in voller Pracht auch in meinem Wohnzimmer (bzw. Newsfeed): niemand kann COVID-19 mehr ignorieren.

Auf einmal sind wir alle ein bisschen gleicher – das erste Mal erlebt Deutschland, was es bedeutet, wenn das persönliche Leben massiv eingeschränkt werden muss. Wir, die mit unserem roten Pass immer fast überall willkommen waren, sind jetzt das Risikogebiet und jede:r von uns – um das so deutlich zu sagen - ist eine potentielle Virenschleuder. Deswegen schließen sich nun für deutsche Staatsbürger:innen auf der ganzen Welt die Grenzen.

Eine Person wäscht sich die Hände.

Nun sind wir alle gleich?

Seit Montag bin ich im Homeoffice. Mein Arbeitsleben geht mit wenigen Einschränkungen normal in meinem Wohnzimmer weiter – wir waren als international arbeitende Organisation schon vor Corona sehr digital. Allerdings kursiert seit Tagen unter Kolleg:innen der Witz, dass man sich die Apokalypse mit mehr Zombies und weniger Telefonkonferenzen vorgestellt hatte. Denn auf einmal verlagert sich aller Arbeitskontakt, ob im Inland oder im Ausland, auf Skype, Microsoft Teams oder Zoom.

Doch das „Gleicher-werden“ geschieht auch hier: Das erste Mal logge ich mich nicht am Ende eines Arbeitstags aus und treffe mich mit meinen Freunden in einem Berliner Café oder einer Kneipe. Ich sitze jetzt ebenso zu Hause wie meine Kolleg:innen in den Krisengebieten der Welt, die ihren Compound nach Feierabend aufgrund der angespannten Sicherheitslage nicht verlassen können. Nun sind wir alle gleich, ob im Irak, in Jordanien, im Jemen oder Berlin: Corona fesselt uns ans Haus. Mein Kollege im Jemen gewöhnt sich noch an die neue Lage: dass es nicht Luftangriffe sind, die verbieten, dass er rausgeht, sondern ein Virus. Die Luftangriffe gibt es allerdings trotzdem.

Gleichzeitig bereiten wir uns bei CARE auf den ersten bestätigten Fall in einem Kontext vor, der maximal schlecht auf COVID-19 eingestellt ist: einem Kriegsgebiet, einem Flüchtlingscamp oder einem Slum irgendwo auf der Welt. Doch wie bereitet man sich vor, wenn die Lebenssituation der Menschen und die Gesundheitsversorgung quasi nichts möglich macht, was uns der deutsche Virenforschungspapst Christian Drosten seit Tagen eindringlich einschärft? Händewaschen in einem Lager ohne Wasserversorgung im Irak? Abstand in überfüllten Camps in Gaza? Isolation in Krankenhäusern in Nordsyrien, die Glück haben, wenn sie überhaupt noch existieren? Und deren geringstes Problem wahrscheinlich ein Mangel an Gesichtsmasken ist.

Corona weltweit: Schwere Folgen für Frauen und Mädchen

Hinzu kommen die unbeachteteren Probleme, die nun auch mehr und mehr für Deutschland diskutiert werden: häusliche Gewalt bei Quarantäne oder Ausgangssperren zum Beispiel, die in Krisenkontexten ohnehin ein großes Problem ist, wird exponentiell zunehmen.

Es ist ein trauriger Fakt: Frauen und Mädchen in Krisen- und Konfliktgebieten werden verstärkt an den Folgen von Corona leiden, und selbst nach Ende der Pandemie werden sie noch jahrelang die verschleppten Auswirkungen spüren.
Aus vergangenen Gesundheitskrisen wissen wir, dass Frauen und Mädchen auf verschiedenste Weise besonders stark betroffen sind, etwa bei der Bildung, weil sie die ersten sind, die nicht mehr zur Schule gehen können. Oder wenn es ums Essen geht, weil sie oft ihren Familien den Löwenanteil der verfügbaren Nahrung überlassen.

Bei der Gesundheitsversorgung, die oft nicht auf ihre Bedürfnisse eingestellt ist. Mal ganz abgesehen davon, dass Frauen auch während Corona-Epidemien Kinder zur Welt bringen. Und nicht zuletzt bei den Bereichen, die akut von Männern besetzt oder beeinflusst sind: Jobs und Sicherheit. Druck bricht sich leider oft in Gewalt Bahn.

Solidarität? Unbedingt - aber eben für alle!

Neben der Solidarität, die die Kanzlerin für Deutschland eingefordert hat, müssen wir deshalb auch international Solidarität zeigen und schnell und konsequent handeln. Wir müssen gezielt diese Menschen unterstützen, die sich in den Krisen- und Konfliktgebieten dieser Welt sowieso bereits in einer Notlage befinden. Dies muss eindeutig über das hinausgehen, was bereits geleistet wird, um Schlimmeres zu verhindern.

CARE wird seinen Teil der Aufgabe übernehmen, und Menschen bei der Prävention unterstützen, beispielsweise durch funktionierende Wasser- und Abwasserversorgung in Camps. Und wir werden verstärkte Aufklärung leisten, wie sich die Menschen so gut es geht auch in ihrer Lebenssituation schützen können.

Denn wie wir alle nun auch in Deutschland gelernt haben: wenn möglichst wenige krank werden, können die Folgen besser bekämpft werden. Und wenn es doch geschieht, wird CARE versuchen, die Folgen für die Menschen und ihre Familien abzumildern. Im Jemen, in Syrien, im Irak und in vielen anderen Ländern der Welt.

Dafür braucht es aber neben Solidarität in Deutschland auch Solidarität für die Schwächsten in der Welt, die dem Virus sonst wehrlos ausgesetzt wären.

Nur weil wir diesmal selbst akut betroffen sind, darf dies nicht aus dem Blick geraten. Es kommt auf uns alle an.

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