„Wenn eine Rakete auf dich zufliegt, hörst du zuerst den Pfeifton”, erklärt Olga aus Pokrovsk, einer kleinen Stadt in der Donetsk-Region in der Ostukraine. „Es ist, als würde die Luft auseinandergerissen werden und dann hört man die Explosion."

Die Granatsplitter fliegen in alle Richtungen. Fenster zerspringen. Die Häuser beben und die Betten wackeln. Ein Klang der Zerstörung, der Angst und der Verzweiflung. Ein Geräusch, das bis ins Mark trifft und einen zwingt, zu reagieren. Für Olga und ihre neunjährige Enkelin Darya bedeutet es auch: Mindestens zwei Wände zwischen sich und die Rakete bringen! Die Wahrscheinlichkeit, direkt getötet zu werden, verringern! Der kleine Flur in ihrem Haus wird in diesen Situationen ihr Zufluchtsort.

Ein Portrait von Olga.

Olga erinnert sich an einen der jüngsten Angriffe. Es war an Silvester, kurz vor Mitternacht: „Ich schnappte mir meinen Chihuahua Busya und ging Richtung Flur. Ich konnte Darya hören, sie zählte: ‚Eins, zwei, drei, es ist nur Feuerwerk, vier, fünf, sechs, nur Feuerwerk, Feuerwerk, Feuerwerk, sieben, acht ...‘

Es war die Nacht, in der überall auf der Welt Feuerwerkskörper in bunten Farben am Himmel explodieren. Hier in Pokrovsk verletzen sieben Luftangriffe ein neunjähriges Mädchen und eine 70-jährige Frau und 16 Häuser werden beschädigt.
„Von diesem Augenblick an gab es jede Nacht zwei oder drei Einschläge in unserer Stadt“, sagt Olga und klammert sich an die Tischkante, an der sie sitzt. „Seitdem halten wir abwechselnd nachts Wache, um in Sicherheit zu sein.“ Eine Person bleibt wach, während die anderen schlafen, lauscht nach Explosionen und weckt die anderen, wenn es Zeit ist, in den Flur oder Keller zu flüchten.

Ein zerstörtes Haus in Izium.

Für ihre Vorsicht hat die Familie einen guten wie schrecklichen Grund: Vor sechs Monaten wurde ihre Wohnung direkt getroffen. Der Balkon und die Fenster wurden zerstört.
Letztere wurden kürzlich von einer Partnerorganisation von CARE repariert, doch der Schock über das Erlebte sitzt tief.

„Meine Enkelin Darya übernimmt die erste Schicht. Sie bleibt bis zwei Uhr nachts wach. Dann übernimmt meine Tochter die nächsten drei Stunden, bevor sie mich für Rest der Nacht weckt“, erklärt Olga. Darya versucht sich abzulenken, indem sie Spiele auf dem Smartphone spielt. „Letzte Nacht war es ruhig, wir haben nur ein paar Explosionen in den Außenbezirken gehört. Diese sind zwar laut und man kann sie in der Luft um sich herum spüren, aber wir brauchen uns nicht zu verstecken. Das ist bei Luftangriffen auf unsere Gegend ganz anders: Vor zwei Nächten gab es einen Einschlag nur wenige Kilometer von hier. Das ganze Haus hat gewackelt und mein Bett sprang nach oben. Es war furchteinflößend“, beschreibt Olga.

Olga steht vor dem Eingang des Gemeindezentrums.

Am 6. Januar verlassen Olga und ihre Enkelin das Haus, um in der Apotheke Medikamente gegen Olgas Kopfschmerzen zu holen. „Die bekomme ich oft, weil der Stress einfach zu viel für mich ist“, erklärt sie. Darya wartet im Auto, als mehrere Luftangriffe das Stadtzentrum direkt treffen. In der einen Sekunde unterhält sich Olga noch mit jemandem, in der nächsten erschüttert ein ohrenbetäubender Lärm das ganze Gebäude, in welchem sie sich befindet. „Ich hatte solche Angst um Darya. Ich ließ alles fallen und rannte so schnell ich konnte zurück zum Auto.“ Darya kommt normalerweise sehr gut mit dem anhaltenden Schrecken und der Angst zurecht und ist sehr belastbar. „Aber an diesem Tag fand ich sie im Auto sitzend in einer Schutzhaltung. Sie schrie“, beschreibt Olga und schlingt dabei ihre Hände und Arme um ihren Kopf und duckt sich näher an den Tisch. An diesem Tag wurden in Pokrovsk elf Menschen getötet. Fünf von ihnen waren Kinder, eines war drei Jahre alt.

„Das ist die Realität, in der wir leben. Es herrscht ein ständiges Gefühl der Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit. Ich muss mehrere starke Beruhigungsmittel nehmen, um den Tag zu überstehen", sagt Olga. Unterstützung erfahren sie und ihre Enkelin in einem Gemeindezentrum, welches sie drei- bis viermal in der Woche besuchen. Durch Förderung von CARE und Partnerorganisationen können sie hier psychosoziale Unterstützung in Anspruch nehmen. Es werden verschiedene Einzel- und Gruppensitzungen angeboten und vor allem Kinder finden hier Aktivitäten wie Mal- und Kunstkurse, die sie für eine Weile von der Angst und den Angriffen ablenken. Seit der Eskalation des Krieges vor fast zwei Jahren gab es in Pokrovsk solche Angebote für Kinder nicht mehr.

Olga sitzt im Gemeindezentrum.

„Ich bin sehr dankbar, dass ich hier im Gemeindezentrum Unterstützung finde“, sagt Olga. „Seit ich hier bin, fühle ich mich viel besser. Und Darya kann ihre Energie ausleben und wieder Kind sein, auch wenn es nur für eine Stunde ist“, fährt sie fort, während im Hintergrund Kinder spielen. „Das hilft uns, weiterzumachen. Nachts lauschen wir in Wachschichten den Explosionen, wir rennen und verstecken uns, und tagsüber lernen wir, mit der Panik umzugehen und wieder zu atmen“, schließt Olga.

Bitte unterstützen Sie die CARE-Hilfe in der Ukraine für Menschen die Olga und Darya mit Ihrer Spende.

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