Aufgrund der anhaltenden Kämpfe fliehen immer mehr Menschen im Nordwesten Syriens in Richtung der türkischen Grenze. Tue Jakobsen und sein CARE-Team in der Türkei setzen alles daran, ihnen zu helfen. 

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie im Augenblick?

Wir erleben derzeit die schnellste und größte Welle der Vertreibung, die es in den neun Jahren des Krieges in Syrien bisher gegeben hat. Eine Stadt nach der anderen wird von Bomben zerstört. Der Bedarf an Hilfe übersteigt mittlerweile unsere Möglichkeiten zu Handeln. Humanitäre Helferinnen und Helfer in Syrien sind völlig überfordert. Sie leisten unter schrecklichen Umständen Hilfe und werden dabei zunehmend selbst zur Zielscheibe. Auch ein von CARE unterstütztes Krankenhaus musste seine Pforten nach Angriffen schließen. 

Das Militär spricht bei solchen Vorfällen doch aber von Unfällen?

Genau. Es wird dann zum Beispiel von Zündungsfehlern gesprochen. Die Tatsache ist aber: 2019 gab es 85 Angriffe auf Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen, von denen einige von den Vereinten Nationen betrieben wurden. Das von mir angesprochene Krankenhaus beherbergte eine der letzten Entbindungskliniken in der Region. Es ist fürchterlich, dass wir schwangeren Frauen dort nicht mehr helfen können; sie können sich an niemanden mehr wenden. Diese Angriffe auf grundlegende Infrastruktur schränken die Möglichkeiten, überlebensnotwendige Hilfe zu leisten, immer weiter ein. Doch das ist die Realität, in welcher wir und unsere Partner arbeiten.

Sie sprachen von zerstörten Städten. Wohin flieht die Bevölkerung?

Wir sind oft Zeugen unglaublich langer Konvois von Vertriebenen in Autos oder Pritschenwagen, die in Richtung Norden, zur türkischen Grenze, fahren. 350.000 Menschen machten sich allein in der ersten Februarwoche auf den Weg. Viele von ihnen kamen nicht weit genug und wurden erneut von den Bomben eingeholt. Die katastrophale Wahrheit ist auch, dass die nördlichen Regionen bereits viel zu überfüllt sind. Die Geflüchteten leben dort dicht gedrängt auf engstem Raum beieinander, was ihre Versorgung nur noch komplizierter macht.

Die aktuellste Statistik besagt, dass 900.000 Menschen vertrieben worden sind. Ist das zutreffend?

Ja, aber die Zahl steigt immer weiter an. Wir hatten noch nie mit so vielen Vertriebenen in so kurzer Zeit und auf so engem Raum zu tun. Es ist Winter hier, so wie in Europa und Nordamerika. Es schneit und 450.000 Menschen haben kein Dach über dem Kopf. Alles ist überfüllt. 150 Schulen wurden geschlossen, um in den Gebäuden Menschen unterzubringen. Wir suchen auch immer noch ein neues Gebäude für unsere geschlossene Klinik.

Und wo leben die Menschen, die keine Unterkunft gefunden haben?

In Zelten, unter Planen; sie sind über die ganze Region verteilt. Wer keinen Unterschlupf unter einem Baum gefunden hat, sitzt draußen im Schnee. Etwa 20.000 Menschen leben unter diesen Bedingungen. Seit 2012 helfe ich Familien, die unter diesem Konflikt leiden; nie zuvor waren die Umstände so kritisch. Momentan ist das Bereitstellen von sicheren Unterkünften die größte Herausforderung. Darüber hinaus werden die Menschen bald ihre Lebensmittelvorräte aufgebraucht haben. Alle Arten von Krankheiten und Seuchen verbreiten sich hier, die hygienische Situation ist katastrophal. Ältere Menschen, Kranke und Kinder sind gezwungen, ohne jegliche Unterstützung im Schnee auszuharren.

Wie können Sie und ihr Team helfen?

Wir verteilen Lebensmittel, Wasser, Decken und Hygiene-Kits, und bieten den Menschen damit zumindest eine Grundversorgung. Wir haben auch Teams, die den psychisch Traumatisierten helfen, da viele die schrecklichen Bombenanschläge aus nächster Nähe erlebt haben. Wir besitzen einige Krankenwagen, um Verletzte abzutransportieren. Unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort fahren auch in evakuierte Städte, um Zurückgebliebenen zu helfen. Viele unserer Helferinnen und Helfer leben selbst in den Regionen, in denen sie jetzt arbeiten. Es ist bewundernswert, wie sie sich für ihre Mitmenschen einsetzen. 

Warum tut die internationale Gemeinschaft nicht mehr?

Die Opfer dieses schrecklichen Krieges sind für manche Menschen nur eine Statistik. Ihrer Meinung nach ist die aktuelle Situation nur eine weitere tragische Nachricht, die aus Syrien kommt. Die Wahrheit ist, dass die Bedingungen die schlimmsten sind, die wir je in diesem Krieg erlebt haben. All die Regierungen wissen das auch. Sie wissen von dem schweren Schicksal, dass diese Menschen ereilt hat. Und die einzige Möglichkeit für eine dauerhafte Lösung des Konfliktes liegt in ihren Händen, nicht in unseren. Alles was wir tun können, ist uns Gehör zu verschaffen und den Menschen in Not weiterhin solidarisch zur Seite zu stehen. 

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