Wolfgang Tyderle ist seit über zwei Jahrzehnten in der humanitären Hilfe tätig und hat in seiner Laufbahn zahlreiche Nothilfeeinsätze weltweit koordiniert. Als erfahrener Mitarbeiter von CARE teilt er in diesem Text seine persönlichen Einblicke und Erinnerungen an den Tsunami von 2004 und die internationalen Hilfsmaßnahmen.
Ein Tag, der sich ins Gedächtnis brannte
20 Jahre ist es her. Einerseits kein langer Zeitraum. Andererseits fühlt es sich nach einer Ewigkeit an. 2004 nutze ich noch den Videotext zur Information. Am zweiten Weihnachtsfeiertag tauchte da auf einmal eine Meldung zu einem schweren Seebeben vor Sumatra auf. Stärke 9,1 auf der Richter-Skala. Das alarmierte einen sofort. Und dann ging es Schlag auf Schlag und es war klar: Wir stehen vor einer Großkatastrophe.
Erste Bilder von Zerstörungen aus Indonesien, Sri Lanka und Thailand trafen ein. Weltweit verfolgten CARE Kolleg:innen die Meldungen, kontaktierten die Mitarbeitenden in den CARE-Büros vor Ort und bereiteten einen der größten und dann auch längsten Hilfseinsätze überhaupt vor.
Schnelle Hilfe unter extremen Bedingungen
Helfende wurden unter größten logistischen Hindernissen in die teils sehr abgelegenen Katastrophengebiete entsandt. Eine genaue, mitunter sich täglich ändernde Analyse der Schäden und Opferzahlen musste erstellt werden. Aufgrund der Größenordnung und der sich unter den Betroffenen befindenden westlichen Tourist:innen und Prominenten entspann sich ein globales gewaltiges Medienecho, unterstützt durch die vielen privaten Aufnahmen der Menschen vor Ort.
Sämtliche klassische Maßnahmen in der humanitären Hilfe mussten durch CARE eingesetzt werden, da in den betroffenen Gebieten jegliche Infrastruktur vernichtet oder zusammengebrochen war. Das Suchen und Bergen von Opfern, die Versorgung der Überlebenden mit Wasser, Nahrung und Notunterkünften musste schnellstmöglich organisiert, Hilfsgüter beschafft werden. Die Eindrücke, die Bilder, der Zeitdruck waren extrem und gingen auch langjährigen Profis an die Nieren.
Globale Spendenbereitschaft: Hoffnung inmitten des Chaos
Das einzig Gute in der Anfangsphase der Hilfsoperationen war die Spendenbereitschaft der Menschen weltweit, denn auch in dieser Hinsicht war diese Katastrophe bis dahin einzigartig. Das Geld sorgte für Planungssicherheit, denn wir Helfenden wussten: Wir können beschaffen, transportieren und Hilfsgüter verteilen, ohne Sorgen über die notwendigen Mittel haben zu müssen.
Das Hauptproblem war jedoch: Wie kommen wir nach Banda Aceh, Galle oder Batticaloa? Was sind die Transportoptionen? Wir mussten permanent ein Bündel von Optionen analysieren, diskutieren und dann entscheiden. Ein wichtiger Faktor in solch einer Lage ist auch die Sicherheit der Helfenden, Güter und der Menschen, die versorgt werden müssen. Verteilungen an verzweifelte, traumatisierte Menschen müssen unter sicheren Umständen stattfinden. Nicht die Stärksten, sondern die Bedürftigsten sollen versorgt werden. In solchen Situationen gilt es, die Quadratur des Kreises zu finden: Schnellstmögliche Beschaffung, Transport und Verteilung von Hilfsgütern bei gleichzeitig sorgfältigster Planung und Vorbereitung.
Wiederaufbau: Mehr als nur Hilfe vor Ort
Neben der unmittelbaren ersten humanitären Versorgung wurde uns auch schnell bewusst, dass die Unterstützung durch CARE weit darüber hinausgehen musste. Der Wiederaufbau und die Schaffung von Lebensgrundlagen waren elementar. Viele Überlebende hatten alles verloren: Ihr Fischerboot, ihren kleinen Laden mit all den Waren. Alles von der Flutwelle zerstört und weggeschwemmt. Die landwirtschaftlichen Flächen waren vom Meerwasser versalzen. Krankenhäuser und Schulen zerstört. Der Bedarf war gewaltig.
Dementsprechend wurden schon sehr kurz nach dem 26. Dezember erste mittel- und langfristige Planungen erarbeitet. Das alles musste abgestimmt und koordiniert werden – mit den UN-Organisationen, anderen Hilfsorganisationen und insbesondere mit den lokalen und regionalen Behörden. Doch hier gingen die Probleme weiter: In manchen Orten lebte z. B. niemand von der lokalen Baubehörde mehr. Sämtliche Akten und Dokumente waren durch die Flutwelle vernichtet worden. Es gab keine Ansprechpersonen, und die aus Jakarta nach Aceh entsandten Beamten kannten die lokalen Verhältnisse nicht.
Aus heutiger Sicht ist es nahezu ein Wunder, dass trotz aller Schwierigkeiten und der Größenordnung der Katastrophe so viel richtig gemacht wurde – auch dank der breiten Unterstützung durch die lokale Bevölkerung sowie durch neu gegründete und etablierte Hilfsorganisationen. Die Versorgung der Betroffenen in Sumatra, Sri Lanka und Thailand lief sehr schnell an, und viele Projekte zum Wiederaufbau und zur Schaffung von Lebensgrundlagen wurden erfolgreich umgesetzt.
Bauprojekte waren häufig wegen der unklaren Besitzverhältnisse schwierig. Zudem mussten wir die lokale Bauweise mit einem verbesserten Erdbebenschutz in Einklang bringen. Dies führte zu Verzögerungen sowie Frust und Unmut unter den Betroffenen.
Lehren aus der Katastrophe
Keine Katastrophe ist im Nachhinein auf allen Ebenen so ausführlich und genau evaluiert worden. Was lief gut, was lief schlecht – und warum? Die entsprechenden Berichte füllen ganze Bibliotheken, und viele Schlussfolgerungen wurden umgesetzt: verbesserte Frühwarnsysteme, weiterentwickelte Standards in der humanitären Hilfe und deren verbindliche Umsetzung.
Selbst im deutschen Spendenrecht fand der Tsunami seinen Nachklang: Als allen Beteiligten und auch den deutschen Behörden die Größenordnung und die Langfristigkeit der benötigten Wiederaufbaumaßnahmen klar wurde, verlängerte das Bundesfinanzministerium die Verausgabungsfrist für Spenden im Zusammenhang mit dem Tsunami von drei auf fünf Jahre. Dies war für CARE und alle Hilfsorganisationen eine wichtige Nachricht. Denn die außergewöhnlich hohen Spendeneinnahmen verlangten umso mehr eine sehr sorgfältige und langfristige Planung.
Die Tsunami-Katastrophe von 2004 hat uns tief erschüttert – und zugleich gezeigt, wie viel möglich ist, wenn die Welt zusammenhält. Trotz der enormen Herausforderungen wurde geholfen, aufgebaut und Hoffnung geschenkt. Diese Erfahrungen prägen uns bis heute. Wir gehen sorgsam mit den uns anvertrauten Mitteln um, planen mit Bedacht und handeln gezielt. Die Erinnerung an diese Tragödie halten wir wach, um zu zeigen, wie wichtig schnelle und nachhaltige Hilfe ist. Schnell helfen, langfristig Perspektiven schaffen und aus der Vergangenheit lernen – das bleibt unser Anspruch.
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CARE leistet unparteiliche humanitäre Hilfe dort, wo akute Not herrscht. Gleichberechtigung für alle Geschlechter ist uns eine Herzensangelegenheit. Die Klimakrise ist schon lange dort Realität, wo die Menschen am wenigsten dazu beigetragen haben und sich kaum selbst vor den Auswirkungen schützen können. Mehr zu unseren Schwerpunkten: