Portraitfoto von CARE-Helferin Patricia Khoder.

Vor zwei Jahren, am 4. August 2020, ereignete sich in der libanesischen Hauptstadt Beirut eine gewaltige Explosion, die den Großteil des Hafens und zahllose Gebäude und Wohnungen in den umliegenden Stadtgebieten zerstörte. Insgesamt starben über 220 Menschen, 6.500 wurden verletzt. Mehr als 300.000 Menschen wurden schlagartig obdachlos.

Beirut ist auch die Heimat unserer CARE-Mitarbeiterin Patricia. Anlässlich des zweiten Jahrestages gewährt sie uns Einblicke in ihre persönlichen Tagebucheinträge der letzten Tage, in denen sie ihre Gedanken aus der Zeit nach der Explosion teilt.

Zerstörter Hafen in Beirut.

Donnerstag, 14. Juli 2022. Jeden Morgen stehe ich auf und erinnere mich daran, dass ich gesund bin, Arbeit habe und dass ich bei der Explosion am 4. August 2020 nicht gestorben bin. Dennoch weiß ich, dass ein Teil von mir für immer unter den Trümmern der Stadt begraben wurde. Wir sind Überlebende. Wenn wir über die gewaltige Zerstörung nachdenken, halten wir es für ein Wunder, dass dabei nur 220 Menschen getötet und 6.500 verletzt wurden. Doch noch heute sterben Menschen an ihren Verletzungen.

Freitag, 15. Juli 2022. Heute lebt mindestens jede zweite Person im Libanon unterhalb der Armutsgrenze. Fast drei Jahre nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise haben wir nur eine Stunde am Tag Strom, uns fehlen Medikamente und wir müssen seit Monaten vor den Tankstellen Schlange stehen. Manchmal möchte ich schreien oder weinen, aber dann beruhige ich mich und sage mir, dass ich großes Glück hatte.

Zumindest habe ich genug zu essen, kann meine Familie versorgen, Medikamente kaufen... und vor allem habe ich die Explosion überlebt.

Sonntag, 17. Juli 2022. In der Nacht der Explosion habe ich nicht geschlafen. Genau genommen habe ich 5 Nächte nicht ein einziges Mal geschlafen. Dank - oder eher wegen - meiner Arbeit als Journalistin war ich eine der ersten, die das Ausmaß der Zerstörung der Stadt sehen konnten. Der Artikel, den ich am Tag nach der Explosion veröffentlichte, „Wenn die Sonne aufgeht, wird es meine Stadt Beirut nicht mehr geben“, wurde in der ganzen Welt veröffentlicht. Was für ein trauriger Triumph für die Journalistin, die ich bin.

Dienstag, Juli 19, 2022. Nachts brennt in Beirut kein einziges Licht. Die Straßen sind stockfinster und es gibt keine Straßenlaternen oder Ampeln. Wir leben mit einer Stunde Elektrizität pro Tag, die vom Staat bereitgestellt wird. Der Rest kommt aus privaten Generatoren, die seit Beginn des Krieges in der Ukraine teurer geworden sind und keine 24 Stunden am Tag funktionieren.

Mittwoch, 20. Juli 2022. Seit ich begonnen habe, dieses Tagebuch zu schreiben, steigen mir manchmal die Tränen in die Augen, wenn ich an die Explosion denke oder darüber spreche. Weinen beruhigt, sagt man. Ich weiß es nicht. Bis zum 4. August 2020 habe ich ständig geweint, bei jeder Kleinigkeit. Jetzt nicht mehr. Seit dem 4. August 2020 und bis zum Beginn dieses Tagebuchs habe ich keine einzige Träne vergossen.

Donnerstag, 21. Juli 2022. Es gibt kein Brot. Der Libanon importiert 72 % seines Weizens aus der Ukraine. Vor der Krise kostete ein Sack Brot 1000 Lira (etwa 65 Cent), heute kostet er 20.000 Lira. Jeden Tag gibt es endlose Schlangen vor den Bäckereien und die meisten Menschen gehen dennoch ohne Brot nach Hause.

Sonntag, 24. Juli, 2022. Bevor ich heute Morgen an den Strand ging, spazierte ich durch die verlassene Stadt und dachte darüber nach, wie sehr ich Beirut und mein Leben vermissen würde, wenn ich das Land verließe. Bis zum Beginn der Wirtschaftskrise 2019 und zur Explosion 2020 hatte ich nie wirklich daran gedacht. Mein ganzes Leben lang, seit der Schulzeit, habe ich gesehen, wie meine Freund:innen nach Frankreich, Kanada oder anderswohin zogen. Es gab zwei Hochphasen der Auswanderung: Ende der 1970er Jahre, als der Krieg im Libanon in vollem Gange war, und 1989-1990, als alles zerstört war. Jetzt, mit der Krise und nach dem 4. August 2020, haben wir diese beiden Rekorde gebrochen.Laut einer Studie haben allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2021 79.000 Menschen das Land verlassen. Das ist eine Menge in einem Land mit nur 4 Millionen Einwohner:innen.

Montag, 25. Juli 2022. Immer wieder steigt derzeit auch in mir der Gedanke auf, wegzuziehen. Ich weiß, dass ich, wohin ich auch gehe, den Libanon immer unter meiner Haut tragen würde. Was mich am traurigsten macht, ist die Tatsache, dass die Explosion in Beirut, nach Hiroshima und Nagasaki, die drittgrößte der Welt war und die Welt bereits zwei Jahre später beginnt, sie zu vergessen.

Mittwoch, 27. Juli 2022. Chadi war mein Freund. Von seinem Tod erfuhr ich erst eine Woche nach der Explosion, als ich das Foto seiner Mutter in einer Zeitung sah. Chadi lag 48 Stunden lang unter den Trümmern eines Gebäudes. Da er taub und stumm war, hörte er nicht, wie die Rettungsdienste nach ihm suchten. Sein lebloser Körper war noch warm, als er gefunden wurde. Auch wenn ich Chadis Sprache nicht sprach, konnten wir einander verstehen. Ich liebte es, mit ihm zu kommunizieren. Chadi war ein Segen. Und er war mein Freund. Leider hat er das nie erfahren.

Donnerstag, 28. Juli 2022. Resilienz. Ich kann dieses Wort nicht mehr hören. Wirklich, ich kann es nicht mehr hören. „Das libanesische Volk ist resilient.“ Das ist wahrscheinlich wahr. Aber wir sind auch ein Volk, das sich an alles anpasst. Und das ist sehr gefährlich; es ist sogar lebensgefährlich.

 

Freitag, 29. Juli 2022. Ich habe das Gefühl, dass jeder Tag, der vergeht, ein weiterer Schritt ist in Richtung Abgrund. Es ist, als ob wir die Treppe hinuntergehen, aber statt einer Stufe ist da nur Leere. Ich sehe keinen Ausweg. Aber trotz allem müssen wir stehen bleiben und weiterleben.

Samstag, 30. Juli 2022. Letztes Jahr fand anlässlich des ersten Gedenkens an die Explosion in Beirut eine Demonstration statt. Als ich an jenem Abend nach Hause kam, brannten überall auf den Gehwegen Kerzen. Damals dachte ich: Beirut ist letztes Jahr gestorben, und heute - ein Jahr später - ist seine Beerdigung. Wir haben ein Jahr gebraucht, um die Stadt zu begraben. Ich frage mich, wie ich mich dieses Jahr fühlen werde...

CARE ist seit 2013 vor Ort und unterstützt betroffene Bevölkerungsgruppen unter anderem durch die Verteilung von Lebensmittelgutscheinen, Bargeld und Hygieneartikeln sowie der Bereitstellung von Wasser und sanitären Einrichtungen.

Bitte unterstützen Sie die Menschen in Beirut in der anhaltenden Notlage mit Ihrer Spende!

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