Es wird mir in den letzten Tagen immer klarer, dass ich mich in einer äußerst luxuriösen Situation befinde, mit meinem Arbeitsplatz im Wohnzimmer, alleine in einer eigenen Wohnung. Wegen eines Interviews beschäftigte ich mich Ende letzter Woche ausführlich mit der Situation in Gaza.Ich weiß sehr gut, wie es in Gaza aussieht, ich habe lange in der Region gelebt und den Gazastreifen über die Jahre immer wieder besucht. Schon bevor ich die Details kannte, bekam ich Bauchschmerzen bei dem Gedanken, Corona könnte dort breiter ausbrechen.
Es mangelt an medizinischen Versorgungsmöglichkeiten
In Gaza gibt es für fast zwei Millionen Menschen 62 Beatmungsgeräte und 70 Intensivbetten. Unnötig zu erwähnen, dass die Betten natürlich nicht alle auf COVID-19 Patient:innen warten – Menschen erkranken auch an anderen Dingen und müssen in einem solchen Bett versorgt werden. Es sind also nicht alle dieser Betten und Beatmungsgeräte verfügbar, falls COVID-19 mit voller Wucht ausbricht. In Berlin haben wir für 3,77 Millionen Einwohner:innen 1.045 Beatmungsgeräte, zwar sind von denen 80 Prozent auch ohne Corona ausgelastet, aber der Unterschied ist trotzdem schockierend.
Dazu kommt, dass Gaza weder ausreichend Schutzkleidung in den Kliniken hat, noch genug Fachpersonal: bereits vor der Corona-Krise betrug die Wartezeit auf eine durchschnittliche HNO-Operation zwischen 18 und 20 Monaten. Nicht auszudenken, was passiert, wenn dort nun hunderte Menschen mit schweren COVID-19 Verläufen in die Krankenhäuser eingeliefert werden. Wahrscheinlich reichen aber auch schon zehn schwer Erkrankte, um das System kollabieren zu lassen.
Wann dies passiert, scheint eine Frage der Zeit: Denn während wir uns in Deutschland in unseren Wohnungen aufhalten, uns auch an Ostern von unseren Freund:innen und Familien fernhielten und uns regelmäßig gründlichst - wie in unzähligen Social-Media-Videos - gelernt, die Hände waschen, ist Prävention und Schutz vor dem Virus im Gazastreifen eine Herausforderung für sich.
Warum das Virus Gaza besonders hart treffen könnte
Die Wasserversorgung in Gaza steht seit Jahren kurz vor dem Zusammenbruch, nur fünf Prozent der Menschen haben Zugang zu sauberem Wasser. Für den Rest kommt zwar etwas aus dem Hahn, allerdings ist es schmutzig. Wenn das Wasser denn fließt, denn laut WHO sind Haushalte in Gaza mit Wasser unterversorgt. Man könnte nun sagen, schmutzig und wenig ist in diesen Zeiten besser als nichts. Doch Wasserhähne funktionieren darüber hinaus nur, wenn auch Strom da ist, weil sonst die Wasserpumpen nicht betrieben werden können, um das blaue Gold durch die Leitungen zu transportieren. In Gaza gab es im März zwischen 13 und 15 Stunden Strom am Tag. Soviel zum regelmäßigen und gründlichen Händewaschen.
Aber Social Distancing sollte doch möglich sein? Gaza ist eines der dicht besiedelsten Gebiete der Welt, fast zwei Millionen Menschen leben hier auf engstem Raum; drei von vier Menschen in einem der acht überfüllten Flüchtlingslager, die es bis heute dort gibt. So eng wie einst die Zelte aneinander gereiht standen, stehen dort heute die kleinen Häuser, mit denen die Familien sie irgendwann ersetzt haben. Die Familien wuchsen, der Platz jedoch nicht: Große Familien und mehrere Generationen in einem Haus sind die Regel, nicht die Ausnahme. Social Distancing ist im Flüchtlingslager praktisch unmöglich.
CARE leistet Corona-Nothilfe in Gaza
Sollte Corona also richtig zuschlagen, stehen wir einer humanitären Katastrophe ungeahnten Ausmaßes gegenüber. CARE und viele andere Hilfsorganisationen versuchen so gut wie möglich, dies im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu verhindern:wir versorgen Krankenhäuser mit Schutzkleidung, Familien mit Hygienekits und informieren breit im Radio und auf den sozialen Medien, wie die Menschen sich schützen können. Ob dies reicht, wird sich in den nächsten Wochen herausstellen.
Derzeit (Stand 16. April) gibt es nur 13 bestätigte COVID-19 Fälle im Gazastreifen. Entwarnung bedeutet dies aber auf keinen Fall: aufgrund mangelnder Testmöglichkeiten – es gibt auch kaum Labore – könnte die Dunkelziffer weit höher liegen. Denn auch in Gaza zeigt sich die gleiche Tendenz wie an vielen anderen Orten der Welt: die Zahl der Erkrankten steigt seit zwei Wochen kontinuierlich, noch langsam, aber immer schneller.