Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft. Sie bedeutete das endgültige Ende der Kämpfe des 2. Weltkriegs. Als die Waffen nach sechs Jahren endlich schwiegen, lagen Deutschland und Europa in Trümmern. Wie Berlin in diesen Tagen ausgesehen haben muss, ist für Menschen, die wie ich in den 1980er Jahren geboren sind, unvorstellbar. Nur einmal bekam ich eine Ahnung davon, wie der Krieg die Straßen und Plätze im Mai 1945 hinterlassen haben muss: als ich 2018 die Stadt Mossul im Irak besuchte, die knapp ein Jahr zuvor durch die irakischen Truppen zurückerobert worden war. Küchen im zweiten Stock ohne Außenwand, die wirkten, als hätten die Bewohner:innen sich erst gerade vom Frühstück erhoben.

Gebäude, die sich von der massiven Wucht der Bombenexplosionen gefährlich zur Seite geneigt hatten, wie Bäume im Wind. Und überall Trümmer, Trümmer, Trümmer und die allgegenwärtige Gefahr von Blindgängern und scharfer Munition. Es machte mich sprachlos, das visuelle Grauen und mir fehlte die Kraft, mir vorzustellen, was die Leute in der Stadt durchgemacht haben mussten, bis die Waffen schwiegen. Das Nachempfinden menschlichen Leids verändert sich, wenn man es persönlich trifft und nachspürt. Und sei es nur Monate später in der gleichen Kulisse.

CARE Pakete werden nach dem zweiten Weltkrieg verteilt.

Am Ende blieb niemand verschont

Der Krieg in Deutschland ist seit 75 Jahren vorbei. Die Zeitzeug:innen werden weniger und weniger, bereits die Generation nach mir wächst ohne Großmütter und Großväter auf, die von ihren persönlichen Erlebnissen berichten. Von Hunger, Vertreibung, Leid und Zerstörung, die jede:r in Deutschland erlebt hat: An die 12 Millionen Menschen aus den östlichen Reichs- und Siedlungsgebieten des Deutschen Reiches waren zu Geflüchteten geworden, nahezu fünf Millionen Wohnungen vor allem in den Städten waren zerstört oder beschädigt, in Europa und Fernost hatten mindestens 55 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Niemand in der Zivilbevölkerung blieb in Deutschland von den Folgen des Krieges verschont.

Geister, die man rief, mag man denken: Es war Deutschland, das dieses Elend über Europa und die Welt gebracht hatte, es waren die Deutschen, die Hitler gewählt hatten und es waren die Bürger:innen dieses Landes, die in den ersten Kriegsjahren die Siege der deutschen Wehrmacht frenetisch bejubelt hatten. Und später nichts mehr gewusst haben wollten von den Konzentrationslagern und der Vernichtung, trotz offener Deportationen und systematischer Diskriminierung und Verfolgung der Minderheiten und Unbequemen im Land. Mitleid und Empathie fällt da schwer, noch mehr in der zeitlichen Distanz, wo wir doch alle die historischen Fakten kennen.

Und es schien, als würde selbst die Natur Deutschland bestrafen: Nach dem Waffenstillstand kam der Hunger, die Kriegsreserven waren aufgebraucht, die Ernte aufgrund von Dürre schlecht und dann brach über Europa einer der strengsten Winter des 20. Jahrhunderts herein. Zwischen November 1946 und März 1947 sanken die Temperaturen auf bis zu minus 20 Grad. Wer in einer Stadt wie Berlin lebte, ohne Kontakte zu Bäuerinnen und Bauern und angewiesen auf die Lebensmittelzuteilungen, hungerte und fror bitterlich. Tausende verhungerten und erfroren im Land.

CARE sendet die Botschaft einer freundlicheren Welt

Doch dann geschah etwas Unglaubliches: In dieses unvorstellbare Dunkel, für ein Land, das größte Schuld auf sich geladen hatte, sendeten Menschen ein Licht. Nicht irgendwelche Menschen. Es waren Amerikaner:innen, die die deutsche Bevölkerung unterstützen, weil sie die Augen vor dem Leid in Berlin, Köln, München und vielen anderen Orten in Europa, über die Deutschland Krieg und Verderben gebracht hatte, nicht verschließen konnten und wollten. Und das, obwohl die USA im 2. Weltkrieg selbst knapp 300.000 Menschenleben beklagen musste, heute eine fast unvorstellbare Zahl: Stand Frühjahr 2020 zählt die US-Armee beispielsweise im Irak, nach 17 Jahren Einsatz im Land, 4.431 Gefallene.

Trotz der hohen eigenen Opferzahlen entschlossen sich 22 amerikanische Wohlfahrtsorganisationen zu helfen, weil sie die Augen vor der Not der deutschen Zivilbevölkerung nicht verschließen wollten. 100 Millionen CARE-Pakete erreichten in den Folgejahren des Krieges Deutschland und Europa. Die Berlinerin Ruth Andreas-Friedrich schreibt am 18. Februar 1948 in ihr Tagebuch: „Wie groß und bewundernswert sind Menschen, die an unbekannte Mitmenschen Liebesgaben schicken. Ganz gleich, ob diese Mitmenschen in China, in Indien oder …in Deutschland leben.“ Selbst die Deutschen konnten die Größe dieser Geste kaum fassen. Und auch der kürzlich verstorbene ehemalige Arbeitsminister Norbert Blüm erinnerte sich sein Leben lang an die „Botschaft einer freundlicheren Welt“ mitten im Hungerwinter.

Was wir daraus lernen können

Ergibt sich also aus unserer Geschichte eine besondere Pflicht zum Mitgefühl? Zur Verantwortung für Menschen, die sich heute in ähnlichen Situationen befinden, wie Deutschland nach 1945? Geht uns noch an, was unsere Generation nicht verschuldet, und auch nicht selbst erlebt hat? Diese Fragen mag jede:r für sich beantworten. Was bleibt ist ein leuchtendes Beispiel der Mitmenschlichkeit, das dieser Krieg neben allem Leid auch hervorgebracht hat. Für mich persönlich ist es durchaus wichtig, dass es meine Vorfahren waren, für die man an einem Punkt, an dem wenig für sie sprach, Mitleid aufgebracht hat. Noch wesentlicher ist trotzdem das tief beeindruckende Vorbild, dass Menschen, die gerade noch erbitterte Feinde waren, ihre Hand ausstrecken und helfen.

 

Eine zerstörte Moschee im Irak.

Denn Geschichte wiederholt sich in verschiedenen Formen und Abstufungen. Leider. Aber das gibt uns die Chance, auch das Gute zu wiederholen und zu beweisen, dass wir Mitmenschen sind, die vor Leid und Not nicht die Augen verschließen. Und wer es so sehen mag: auch um ein bisschen Licht, das 1945 aus dem Nichts ins Dunkel kam, zurückzugeben.

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CARE-Nothilfe in Krisengebieten