Elf Jahre nach der Gewalt in Sindschar und der Vertreibung Hunderttausender Ezid:innen sind die Geflüchtetencamps im Nordirak weiterhin überfüllt. Was einst als vorübergehender Zufluchtsort gedacht war, ist zu einem dauerhaften Wohnort geworden – das Leben im Stillstand, indem die Verarbeitung alles Geschehenen ein ständiger Überlebenskampf ist. Adana, 26, wurde 2014 verschleppt und war ein Jahr und sieben Monate in Gefangenschaft, bevor ihr die Flucht gelang. Seitdem lebt sie in einem Flüchtlingscamp für Binnenvertriebene. „Wir leben nun seit über acht Jahren in diesem Camp”, sagt sie. „Nichts hat sich verändert. Es fühlt sich an, als würde der Genozid weitergehen, nur langsamer.”

Adana laeuft eine Straße entlang

Zeit in Gefangenschaft

Adana erinnert sich, wie sie früher mit ihren Schwestern auf dem Dach ihres Hauses in Sindschar saß. Sie träumten von Hochzeitskleidern und zeichneten farbenfrohe Entwürfe. Ihre unbeschwerte Kindheit endete jedoch schlagartig. Sie war erst 15 Jahre alt, als ihr Leben zerbrach. An jenem Morgen wurde ihr Dorf überfallen. Bewaffnete Milizen umstellten die Häuser, stürmten die Straßen. Männer und Frauen wurden getrennt und auf Lastwagen verfrachtet. Handys wurden konfisziert. Jüngere Mädchen zwang man auf separate Fahrzeuge. „Es war elf Uhr, als sie unser Dorf erreichten. Sie kamen aus ihren Lastwagen und schnappten sich die Mädchen – auch mich. Einige Mädchen versuchten, sich mit Öl aus einem Tank einzureiben, um sich unkenntlich zu machen.“ Sie erinnert sich an das Weinen, an die Schreie. Ein älterer Mann rief: „Was bringt es euch, mich mitzunehmen? Ich bin alt.” Daraufhin prügelten sie ihn mit ihren Gewehrkolben und Stöcken.

Adana, von hinten im Gefluechtetencamp fotografiert

Adana wurde ein Jahr und sieben Monate festgehalten. Diese Zeit hat Spuren hinterlassen – auf ihrem Körper, in ihrer Stimme, in ihrer Erinnerung. Sie erinnert sich an den ständigen Hunger, an den Durst, daran, wie ihre Kräfte nachließen, sodass sie sich alle paar Minuten hinsetzen musste. Duschen konnte sie höchstens alle zwei Wochen. Die unhygienischen Bedingungen führten zu Hautkrankheiten. Sie gab vor, älter und bereits verheiratet zu sein und gab ihren Neffen als ihren Sohn aus, in der Hoffnung, den schlimmsten Übergriffen zu entgehen. „Jeden Tag dachte ich, dass ich es nicht überleben würde. Und ich glaubte, nie wieder jemanden meine Sprache zu mir sprechen zu hören.”

In einer regnerischen Nacht gelang ihr die Flucht. Sie fand Zuflucht in einem Flüchtlingscamp.  „Als ich das erste Mal wieder richtig duschen konnte, habe ich nur geweint. In Freiheit schmeckt alles köstlich.” Adana glaubte, einem besseren Leben entgegen zu kommen.

Doch das Leben im Camp bringt eigene Herausforderungen mit sich: Hitze, das Gefühl ständiger Unsicherheit, fehlende medizinische Versorgung. „Ich habe Angst, dass mein Zelt bei dieser Hitze Feuer fängt. Ich habe in den vergangenen Jahren so viele Zelte brennen sehen. Es wird immer schlimmer.”

„Wenn ich nicht spreche, wer dann?”

In einem kleinen Container, in dem die Klimaanlage gegen die 50 Grad draußen ankämpft, arbeitet Mariam, Psychologin bei The Lotus Flower, einer Partnerorganisation von CARE im Irak. Sie bietet psychosoziale Unterstützung für Frauen wie Adana. „Es gibt viel Trauma in diesen Camps”, sagt Mariam. „Und es ist noch nicht vorbei. Wir sehen hier eine Generation, die von Trauma geprägt ist. Die Erfahrungen der Eltern wirken sich auch auf ihre Kinder aus, die in den Camps aufwachsen. Erst vor wenigen Monaten wurde eine Frau zurückgebracht, nachdem sie von ihren Entführern freigekauft worden war. Solange noch Angehörige vermisst werden, geht das Trauma weiter.” Auch Adana vermisst bis heute eine ihrer Schwestern. Sie weiß nicht, ob sie noch am Leben ist oder irgendwo gefangen gehalten wird.
 

Portraitfoto von Psychologin Mariam

Die häufigsten Symptome, die Mariam in ihrer Arbeit begegnen, sind Depressionen, soziale Isolation und Suizidgedanken – selbst bei Kindern. Ihre Arbeit braucht Zeit, denn oft vergehen Monate, bis die Betroffenen ausreichend Vertrauen gefasst haben und der Heilungsprozess überhaupt beginnen kann. „Die Menschen wollen allein sein. Sie schaffen es kaum, ihr Bett zu verlassen.” Mariam versucht, ihre Routinen zu durchbrechen, ihnen etwas zu geben, woran sie sich festhalten können. „Viele sind noch nicht bereit, über das Erlebte zu sprechen und ich zwinge niemanden. Ich helfe ihnen nur, damit zurechtzukommen.”

Für Adana hat es mehrere Jahre gedauert, bis sie bereit war, über ihr Trauma und ihre Erfahrungen zu sprechen. „Wenn ich nicht darüber spreche, wer dann? Die Menschen müssen es aus unseren Mündern hören. Wir waren lange still wegen unseres Traumas. Wir hatten und haben immer noch Angst, erkannt zu werden. Dass sie uns wiederfinden. Aber wir müssen darüber sprechen und wir müssen gehört werden!”

Rückkehr ins Nichts

Die ständigen Drohungen über die Schließung der Camps belasten die psychische Gesundheit der Vertriebenen zusätzlich, beobachtet Mariam. „Die andauernden Diskussionen, die Camps zu schließen, bedeuten für die oft mehrfach Binnenvertriebenen eine weitere Belastung und Angst”, sagt Mariam. „Viele haben zu große Angst, in das Trauma zurückzugehen.” Ihre Patient:innen berichten ihr, dass sich ihr Leben nicht wegen der Vergangenheit zu Ende anfühlt, sondern wegen dessen, was in der Gegenwart geschieht. Ohne Einkommen, ohne gesicherte Bildung und ohne Zugang zu einer kontinuierlichen Gesundheitsversorgung ist es kaum möglich, psychisch stabil zu bleiben. „Ich bringe ihnen Atemtechniken bei, um mit Panikattacken umzugehen. Aber wenn alles um einen herum unsicher ist, reicht das nicht aus.”

Mariam bereitet Workshop vor
Workshop von The Lotus Flower mit Kindern

Die Situation im Irak

Im Irak leben über eine Million Binnenvertriebene (IDPs). Während die Mehrheit in Städten oder in informellen Siedlungen lebt, gibt es rund 110.000 Binnenvertriebene in 21 Geflüchtetencamps im Nordirak – die meisten davon Ezid:innen. Insgesamt leben heute schätzungsweise 180.000 Ezid:innen weiterhin in Vertreibung im Nordirak.

Für viele bedeutet eine Rückkehr in ihre Herkunftsregion Sindschar, die Rückkehr in ein Gebiet, in dem rund 70 Prozent der privaten Häuser und der kritischen Infrastruktur zerstört wurden - und vielerorts immer noch zerstört sind. Es gibt keine funktionierenden Schulen, keine Arbeitsmöglichkeiten, keine sicheren Straßen, Willkür durch verschiedene Milizen, keinen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Die Landwirtschaft, einst die wichtigste Einkommensquelle in der Region, ist zusammengebrochen. Dürre hat das Land ausgedörrt und der Klimawandel macht das Leben zusätzlich unerträglich. Für viele gibt es schlichtweg keinen Weg zurück. Auch für Adana ist eine Rückkehr in ihre Heimat Sindschar keine Entscheidung, die sie treffen kann. Sicherheit bleibt ein fernes Versprechen, und das Trauma der Vergangenheit haftet noch an jeder Ecke des einstigen Zuhauses. „Es gibt keine Garantie, dass es nicht wieder passiert. Es gibt keine Sicherheit für uns. Ich werde das Camp nicht verlassen. Solange hier noch ein Mensch lebt, bleibe ich.”

Psychologische Sitzung mit Kindern im Irak
Eine psychologische Betreuungssitzung für Kinder in den Büroräumen von The Lotus Flower.

Es geht hier nicht nur um Schutz oder ums Überleben. Es geht um Würde. Um das Recht auf Heilung, das Recht auf Selbstbestimmung und darum, mehr zu sein als nur Opfer. „Ich möchte irgendwo leben, wo es Würde für Frauen gibt, und nie wieder hierher zurückkehren“, sagt Adana abschließend.

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