Sherzad sitzt mit seiner Familie in einer Schule und schaut im die Kamera.

Sherzad, 42, war Lehrer für Englisch und Sachkunde in Sindschar. Sein ganzes Berufsleben hat er unterrichtet. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen vier Kindern, wo er normalerweise arbeitete: In einem Klassenzimmer, zusammen mit fünf anderen Familien. Etwa 1.000 Menschen leben in der Grundschule, in der eigentlich in zwei Wochen wieder Unterricht stattfinden soll. Die lokalen Behörden haben den Schulbeginn um einen Monat nach hinten verschoben – es gibt noch nicht ausreichend Unterkünfte für die etwa eine Million intern Vertriebenen, die in den letzten Wochen und Monaten in die kurdische Region des Iraks geflohen sind. Über 100 Schulen in der 350.000 Einwohnerstadt Zakho werden als Flüchtlingsunterkunft genutzt – genauso wie Kirchen, Sporthallen, Ämter und Festhallen. In den letzten Tagen hat Sherzad begonnen, die ezidischen Flüchtlingskinder zu unterrichten. „Ehrlicher Weise geht es mir gar nicht so sehr darum, dass sie etwas lernen. Viele haben Elternteile und Geschwister verloren, manche sprechen nicht mehr, weil sie zu viel Grausames gesehen haben. Sie brauchen Beschäftigung, Ablenkung. Und ihre Eltern brauchen auch etwas Zeit und Ruhe.“

Mann steht in einer Ruine und blickt in die Kamera.

„Wer würde da nicht verrückt werden?“

„Sie haben uns vor die Wahl gestellt. Entweder, wir konvertieren, oder sie würden uns töten. Aber wir können doch nicht ändern, an was wir glauben und wer wir sind,“ erzählt Sefik, Familienvater aus Sindschar. Seine Mutter wurde enthauptet, seine 13-jährige Tochter vergewaltigt und verschleppt. Mit neun weiteren Kindern und anderen Familienangehörigen konnte er fliehen. Acht Tage lang haben sie sich in den Bergen versteckt, hinter Steinen und in Felsschluchten. Sefiks fünfjährige Tochter hat die Flucht nicht überlebt. „Sie ist verdurstet“, sagt der Vater, während er in sich zusammenbricht und leise anfängt zu weinen. „Meine andere Tochter hat das nicht ausgehalten, sie ist verrückt geworden.“ Er zeigt auf ein etwa 11-jähriges Mädchen, das in der Ecke auf einer dünnen Matratze liegt. Sie wiegt ihren schmalen Oberkörper hin und her, wirft ihren Lockenkopf wild durch die Luft und lacht ununterbrochen, ein hölzernes, hysterisches Lachen, das mit Fröhlichkeit nichts zu tun hat.

„Sie hat gesehen, wie eine Schwester vergewaltigt und verschleppt wird, wie ihre andere Schwester verdurstete. Wer würde da nicht verrückt werden?“, sagt der Vater. In Zakho, wohin sie von den Bergen über Syrien geflohen sind, haben sie erstmal unter einer Brücke geschlafen. Nachbar:innen haben sie dann zu dem Rohbau gebracht, der Besitzer hat ihnen einige Matratzen und Decken geschenkt. Zusammen mit über 40 weiteren Ezid:innen aus Sindschar lebt die Familie nun in einem nackten Rohbau, ohne Fenster, Türen oder Wände. Sie haben weder fließendes Wasser noch eine Toilette. Auf dem Boden liegen Matratzen, auf denen Blut, Erbrochenes und Fäkalien zu sehen sind. Ohne die Hilfe der Nachbar:innen, die ihnen warme Mahlzeiten und Wasser vorbeibringen, können sie nicht überleben.

Kasim steht in seinem Haus und blickt in die Kamera.

Hölle auf Erden

Kasim ist 16 Jahre. Sein Vater wurde von Milizen getötet. Er konnte fliehen mit seinen sechs Geschwistern, sein Onkel hat sich ihrer angenommen. Dann wurde auch dieser gefangen. Jetzt liegt es an Kasim, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Zusammen mit ein paar anderen Männern, die mit ihm nach Zakho geflohen ist, kehrte er vor ein paar Tagen in sein etwa zwei Stunden entferntes Dorf zurück. „Wir wollten wissen, ob es sicher ist, zurückzukehren. Wir wollten wissen, was mit unseren Häusern passiert ist und unser Hab und Gut holen.“ Was sie vorgefunden haben, beschreibt er als die „Hölle auf Erden“. Mehrere Minuten kann er nicht sprechen, versucht, die Fassung zu bewahren. Er ringt nach Luft, als zöge sich eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals. Seine Augen weiten sich mit Entsetzen und er beginnt am ganzen Leibe zu zittern, als er erzählt: „In unserem Dorf stapeln sich die Leichen. Die Alten und Kranken, die zu schwach waren, um zu fliehen, wurden enthauptet, verbrannt oder erschossen. Unsere Häuser wurden geplündert.“ Trotzdem möchte er zurück, irgendwann, wenn es wieder sicher ist.

Casho steht vor dem Rest seiner Familie.

Hilferuf aus dem Nordirak

„Wir brauchen Eure Hilfe“, schreibt Casho in einem Brief an unsere CARE-Mitarbeiter:innen. „Unsere Mädchen werden weggenommen, unsere Kinder und Eltern abgeschlachtet. Alles, was wir uns jemals aufgebaut haben, wurde zerstört. Es gibt im Moment keine Zukunft für uns und unsere Kinder.“ Casho ist Ezide und kommt aus dem Sindschar Gebirge. Zusammen mit seiner Frau, seinen sieben Kindern und weiteren Familienmitgliedern ist er vor zwanzig Tagen aus seiner Heimat geflohen. Zehn Tage haben sie sich in den Bergen versteckt, nachdem Milizen ihr Dorf angegriffen haben. Die fünfjährige Tochter seines Bruders mussten sie auf dem Weg zurücklassen. Sie war gestürzt und konnte nicht mehr laufen. „Zuerst haben wir sie getragen, aber wir waren schwach vor Durst und Hunger. Sie ist immer wieder von unseren Armen gerutscht und hat sich dabei weitere Knochen gebrochen. Es waren Minuten, Sekunden, die wir hatten. Wir wurden aus der Luft beschossen und mussten rennen. Mein Bruder ist vor ein paar Tagen aufgebrochen um sie zu finden.

Alle wissen, dass sie nicht mehr am Leben sein kann, aber wir konnten ihn trotzdem nicht davon abbringen.“ Casho hat aus Stöcken, Pappe und Plastikplanen einen Verschlag aufgebaut,  vor einem Rohbau, in dem über 200 Ezid:innen Zuflucht gefunden haben. Auf vier Etagen, ohne Wände, Toiletten oder fließendes Wasser leben sie hier seit Wochen. Für Casho und seine Familie war kein Platz mehr. Die kurdische Regionalregierung schätzt, dass mehrere Dutzende solcher Rohbauten in der 350.000 Einwohnerstadt Zakho von Ezid:innen bewohnt werden. Bisher gibt es nur ein Camp, in dem etwa 6.000 Menschen leben – nicht ausreichend Platz für alle der etwa 160.000 Ezid:innen, die in Zakho Zuflucht gefunden haben.

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