10 Uhr morgens - Auf dem Boden sitzen wie sie
Kontakte insgesamt: 1.837, das zeigt Seadas Telefon an, als sie sie durchgeht, um die nächste Nummer zum Anrufen zu finden. Wenn man die 48-jährige CARE-Mitarbeiterin einen Tag lang in Dire Dawa, Äthiopien, begleitet, kann man schon erahnen, dass die Zahl so hoch sein würde. Während ihres Arbeitstages wird sie von vielen Menschen begrüßt, und wann immer sie eine Minute Zeit hat, ist sie am Telefon, um Probleme zu lösen oder sich Sorgen anzuhören. „Ich kenne sehr viele Leute. In meinem Beruf ist es wichtig, gut vernetzt zu sein“, sagt sie. Seada ändert auch oft ihr Aussehen, wenn sie den Ort wechselt. Wenn sie ein Mitglied der von Beiersdorf unterstützten Jugend-Spargruppe von CARE besucht, wird Seada ein Plastikstuhl angeboten, auf dem sie sitzen kann, aber sie lehnt ab und setzt sich stattdessen auf den Boden.
„Ich muss mich anpassen. Die Projektteilnehmenden sehen mich als eine von ihnen, denn ich spreche wie sie, kleide mich wie sie und bewege mich wie sie. Ich trage ein Kopftuch, ich sitze auf dem Boden wie sie und ich spreche ihre Sprache. Das hilft mir, meine Arbeit gut zu machen, denn dann ist die Kluft zwischen uns nicht so groß, wenn ich versuche, die Bedeutung z.B. von Gesundheitsmaßnahmen zu vermitteln.
Wir begegnen uns als Gleichberechtigte und ich keine Außenstehende, die versucht, ihnen fremde Dinge beizubringen“, sagt sie. Als CARE-Facilitatorin ist Seada für 626 junge Frauen zuständig, die zu 26 verschiedenen Spargruppen gehören. Sie besucht alle Mitgliederinnen regelmäßig und kennt sie alle sehr gut. Die Details, an die sie sich erinnert, sind absolut beeindruckend. Sie erinnert sich genau an den Betrag, den eine junge Frau gespart oder als Kredit aufgenommen hat. Sie kennt die Namen aller Familienmitglieder und weiß, dass in einer Gruppe die Mutter eines Mädchens kürzlich verstorben ist. Das Wichtigste aber ist, dass sie weiß, welche Träume alle von ihnen haben. Im Durchschnitt besucht sie acht bis zehn junge Frauen pro Tag. Die 22-jährige Tizita mit ihrem Gemüseladen ist die sechste an diesem Morgen.
11 Uhr - Über den Fortschritt sprechen
„Ich besuche die Mädchen, um zu sehen, wie ihre Unternehmen laufen. Ob alles noch so läuft, wie sie es sich wünschen, ob sie richtig sparen und sie zur Arbeit motivieren“, erklärt Seada, während sie Tizita begrüßt. „Seada lässt uns immer wieder andere Blickwinkel sehen und teilt ihre eigene Lebenserfahrung mit uns. Sie unterstützt uns immer. Ich bin manchmal ungeduldig, weil ich nicht den Rest meines Lebens Gemüse verkaufen will, sondern höhere Ziele habe, aber Seada sagt mir immer, dass dies nur eine Phase meines Lebens ist. Wenn ich es gut mache, kann ich meine Träume erreichen. Wir nennen sie Tante, weil sie immer für uns da ist, wie eine Familie, und wir lieben sie sehr“, sagt Tizita und legt frische Tomaten aus einem Sack unter den Tisch auf ihre Auslage voller verschiedener Gemüsesorten. Mit den Projektteilnehmerinnen über die Fortschritte zu sprechen und nach ihnen zu sehen, ist nicht alles, was Seada tut. Sie ist ein Teil ihres Lebens. Sie kocht Frühstück für sie, isst mit ihnen, fragt sie, was es Neues in ihrem Leben gibt, übernimmt Hausarbeiten und hört sich ihre Probleme an.
14.00 Uhr - Mit der eigenen Erfahrung beginnen
Seadas nächste Station ist das Haus der 22-jährigen Mutter Safo. Mit Hilfe von CARE und der Spargruppe konnte sie sich einige Ziegen kaufen, die sie züchtet und verkauft. Hier setzt sich Seada zu Safo und ihrer Familie auf den Boden und schaut sich die schriftlichen Pläne von Safos Spargruppe an und bespricht mit ihr die Fortschritte der Gruppe. „Seada ist immer für uns da. Sie kommt, wenn wir krank sind. Wenn wir viel Besuch haben, bleibt sie, um uns beim Kochen zu helfen. Einmal sah sie mich auf der Straße mit einem kaputten Schuh und hielt an, um mir neue Schuhe zu kaufen“, beschreibt Safo. Mit der Unterstützung von CARE konnte sie ein Einkommen für sich und ihren zweijährigen Sohn schaffen.
„Es ist sehr schwierig, hier zu leben. Selbst Menschen mit formaler Bildung finden keine Arbeit. Ich habe ein Diplom als Buchhalterin, und es macht mich traurig, dass ich es noch nicht nutzen kann. Saeda hat mir beigebracht, geduldig zu sein. Gemeinsam wollen wir, dass es die nächste Generation besser hat als wir. Wir sprechen auch viel über Gesundheitsthemen, zum Beispiel über die traditionelle Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung. Früher wusste ich nicht, wie schädlich das ist, aber jetzt bringe ich es anderen bei, um zu verhindern, dass es anderen passiert“, sagt Safo. Saeda fügt hinzu: „Ich bin als junges Mädchen selbst beschnitten worden. Also beginne ich mit dem, was mir passiert ist, und verbreite dann das Bewusstsein. Es ist wichtig, Erfahrungen auszutauschen und sich lokal und kulturell anzupassen, um eine nachhaltige Wirkung auf die Gesellschaft zu erzielen.“
16.00 Uhr - Zeuge des Wandels
Saeda kam vor 15 Jahren zu CARE. Sie spricht vier Landessprachen sowie Englisch und versteht Arabisch gut, was ihr den Kontakt zu den Gemeinden in Dire Dawa erleichtert, in denen verschiedene ethnische Gruppen leben. Für Saeda ist dies kein Job, sondern eine Chance von Gott. „Diese Mädchen sind wie meine eigenen Kinder. Wir arbeiten als eine Gemeinschaft zusammen. Ich bin so stolz auf sie und so dankbar, dass ich ihre Veränderungen und Erfolge miterleben darf. Ich lebe dafür, den Menschen zuzuhören und fühle mich für alle meine Mädchen verantwortlich. Ihr Glück ist mein größter Erfolg im Leben“, schließt sie und macht sich auf den Weg, um die nächste junge Frau im CARE-Projekt zu besuchen.
Spenden auch Sie für die CARE-Hilfe in Äthiopien!
Ein Gespräch zwischen Seada und Tizita, einem Mitglied einer Jugend-Spargruppe
S: „Wie läuft das Sparen bei dir?“
T: „Es läuft sehr gut. Ich bin sogar meinem Aktionsplan voraus.“
S: „Hattet ihr Treffen zu anderen Themen?“
T: „Wir hatten zwei Treffen zum Thema Brustkrebsbewusstsein und Gesundheit. Ich habe viel über Dengue-Fieber gelernt.“
S: „Du hast kürzlich einen Kredit über 6000 Birr (98 Euro) aufgenommen, was hast du mit dem Geld gemacht?“
T: „Ich habe Gemüse für meinen Laden gekauft, damit ich ihn ausbauen und mehr verkaufen und verdienen kann.“ (zeigt auf eine Kiste mit Tomaten und Kartoffeln)
S: „Bist du mit deinem Geschäft zufrieden?“
T: „Ja, aber es ist nicht genug für mich. Ich will mehr, weil ich größere Pläne habe. Ich will hier nicht aufhören.“
S: „Du kannst es schaffen. Ich glaube an dich. Hab einfach Geduld. Dein Geschäft läuft gut, wenn du genug Geld gespart hast, können wir uns die nächsten Schritte für dich ansehen. Ich erinnere mich, dass in eurer Gruppe die Mutter von jemandem gestorben ist. Seid ihr zu ihrem Haus gegangen?“
T: „Ja, wir sind alle 28 zu ihrem Haus gegangen und haben ihr beim Trauern geholfen.“
S: „Danke, dass ihr ihr geholfen habt und dass du mir zugehört habt. Du bist sehr stark.“
T: „Danke, dass du mich unterstützt. Ich bin so dankbar für deinen Rat.“