Es gibt Momente, da fühlt sich mein Herz leer an. Oder so schwer, dass ich kaum noch atmen kann. Zu viele Geschichten, zu viel Leid, zu viele Menschen, die alles verloren haben. Und doch passiert es manchmal – ganz leise, ganz unerwartet – dass mein Herz sich wieder füllt. Nicht, weil etwas leichter wird. Sondern weil zwischen all dem Schmerz ein kleiner Funke Menschlichkeit aufflackert. Und bleibt.

Gesehen und gehört werden

In Afghanistan stehe ich mitten in einem mobilen Gesundheitszentrum von CARE. Um mich herum Frauen in blauen Burkas, die mir ihre Verletzungen zeigen, ihre Schmerzen. Sie sprechen Dari, eine Sprache, die ich nicht beherrsche - und doch verstehe ich alles. Ich möchte antworten, versuche es mit etwas Einfachem. Zeige auf mich: „Sarah.“ Dann auf sie. Und plötzlich nennt mir jede ihren Namen. Eine hebt ihre Burka. Dann noch eine. Und noch eine. Für einen kurzen Moment schauen wir uns in die Augen. Eine hat rot gefärbte Haare. Eine trägt Jeans und T-Shirt unter der Burka. Wir lachen. So ehrlich, so warm. Für ein paar Sekunden vergessen wir die Welt um uns herum. Dann gehen sie zurück in ein Leben, das so unendlich hart ist. Aber ich trage diesen Moment in mir und das Vertrauen, das mir diese Frauen geschenkt haben. Bis heute.

Sarah in Afghanistan neben zwei Kindern
Frauen und Kinder aus Afghanistan sitzend auf dem Boden

In Äthiopien sitze ich fast drei Stunden mit einer Frau, ihr Baby schlafend auf ihrem Schoß. Ich frage, höre zu, frage weiter. Ich will sie und ihre Geschichte wirklich verstehen. Am Ende sagt sie zur Übersetzerin: „Zum ersten Mal habe ich mich gesehen und gehört gefühlt. Als wäre ich etwas wert. So tut es weniger weh.“ Da fehlten mir kurz die Worte. Was sagt man dazu? Das Zuhören so viel bewirken kann in einem Leben, das jahrelang von Trauma, Hunger und Not getragen wird. 

Missra sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und hält ihre Tochter im Arm.

Im Osten der Ukraine treffe ich auf Lydia in einer Notunterkunft. Sie nimmt mich mit, während sie ein CARE-Hygienepaket öffnet. Ich habe diese Pakete schon oft gesehen, fotografiert, gefilmt, in der Hand gehabt. Aber es ist das erste Mal, dass ich wirklich miterlebe, wie jemand es öffnet und entdeckt, was sie bekommen hat. Lydia findet ein Handtuch. Einen Beutel. Und dann einen Eimer.
„Ooooooh, ein Eimer!“, ruft sie und legt sich die Hand aufs Herz. Für mich ist es nur ein einfacher Eimer. Für sie bedeutet er so viel mehr. Weil sie vorher ihr Wasser in alten Flaschen sammeln musste und nicht das Geld hatte, um sich einen zu kaufen. Für sie bedeutet ein Eimer einen einfacheren Zugang zu Wasser. Zum Waschen. Zum Trinken, wenn Raketen wieder die Strom- und Wasserversorgung unterbrechen. Ich schlucke. Und mein Herz wächst bei ihrer unglaublichen Freude. Ihrer Aufregung. Und wie sie den Eimer an ihren Körper hält.

Ein Portrait von Lydia.
Lydia öffnet ein CARE-Paket.

Larisa lebt auf einem Feldbett in einem Transitcenter in der Ukraine, in das sie evakuiert wurde. Alles verloren. Nur ihre Jacke ist ihr geblieben – sie nutzt sie als Decke. Neben ihr eine streunende, zurückgelassene Katze, die sich an sie schmiegt. „Es tut mir leid, dass die Katze nicht gebürstet ist“, sagt sie leise. Sie selbst hat nichts und sorgt sich um das Fell einer Katze. Und dass sie für uns, die sie interviewen, einen guten Eindruck hinterlassen möchte. Ich habe selten so viel Würde und Fürsorge in einem Satz gespürt.

Larisa sitzt auf ihrem Klappbett.
Eine Katze sitzt auf einem Bett in einer Notunterkunft.

Und dann der Tschad. Flüchtlingscamp. Sudan-Krieg. Menschen, die erschöpft, traumatisiert, durstig und hungrig sind. Die Interviews sind schwer und emotional. Im Hintergrund spielen Kinder mit Eseln. Und ich erfahre: Diese Esel haben die Kinder gerettet. Sie trugen sie, zu zweit, zu dritt, durch Hitze, durch Sand, ohne Wasser, ohne Pause. Sie brachen erst zusammen, als sie in Sicherheit waren. Manche starben. Doch sie hatten ihre Mission erfüllt. Ich schaue den Kindern zu, wie sie lachen. Und die Esel streicheln. Mein Herz bricht. Und füllt sich gleichzeitig.

Zwei Kinder sitzen auf einem Esel.

Es sind diese kleinen, stillen Momente, die mein Herz füllen, Momente, in denen ich Zeugin sein darf. Wenn Menschen mir ihr Innerstes anvertrauen. Wenn sie lachen, obwohl sie weinen könnten. Wenn sie erzählen, obwohl es ihnen sicher schwerfällt. Wenn sie sich gesehen fühlen und ihre Augen aufleuchten. Ich trage so viele Namen mit mir. So viele Geschichten. Und ich hoffe, dass sie zu erzählen, bei den Lesenden etwas bewirkt: Ein größeres Herz. Ein offeneres Ohr. Ein weicheres, mutigeres Mitgefühl.

Denn manchmal braucht es nur einen Eimer. Eine Stimme, die gehört wird. Oder eine ungekämmte Katze – um zu zeigen, dass Menschlichkeit nie verloren geht.

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