Letensea trägt einen Wasserkanister auf dem Rücken.

Der Weg hinunter zum Fluss ist steil. Felsen und große Brocken erschweren das Gehen. Lose Steine und Sand machen den Weg rutschig. Er ist sehr schmal und die Oberfläche ist uneben. Jeder Schritt der 70-jährigen Letensea muss sorgfältig abgewogen werden, denn sie weiß, was sonst passieren könnte. „Eine Frau aus unserer Gemeinde versuchte, mit ihrem Esel zur Wasserstelle zu gelangen, als sie stürzte. Einige meiner Nachbarn versuchten, sie in die Klinik zu bringen, aber es war zu spät für sie“, erinnert sich Letensea und schiebt den gelben Kanister auf ihrem Rücken hin und her. Er wird von einem dunkelblauen Tuch gehalten, das sie sich fest um die Brust geschlungen hat. Sie trägt zwanzig Liter Wasser, was für Letensea, die klein und mit dem Alter schwächer geworden ist, immer eine Herausforderung darstellt. Sie hat keine andere Transportmöglichkeit als ihren eigenen Körper. Andere bringen Esel mit, wenn sie das Glück haben, einen zu besitzen.

Zweimal am Tag muss sie diesen gefährlichen Weg zurücklegen: Einmal früh am Morgen, das zweite Mal am Nachmittag, vor Einbruch der Dunkelheit. Die Prozedur dauert jedes Mal etwa eine Stunde. „Es ist sehr gefährlich für uns Frauen, hierher zu kommen. Eine schwangere Frau hat ihr Kind mitten auf einem Feld geboren, als sie auf dem Weg zur Wasserstelle war. Zum Glück geht es Mutter und Kind gut“, sagt Letensea. Es sind vor allem Frauen und Kinder, die mit dem Wasserholen beauftragt sind.

Letensea kann niemand die Aufgabe abnehmen. Sie lebt allein mit ihrem vierjährigen Enkel Danay, nachdem ihr einziger Sohn 2022 in dem Konflikt in Tigray ums Leben kam. „Wir haben unsere größte Stütze verloren, als er starb. Ich bin einsam und mein Enkel fragt mich immer, wo sein Vater ist“, sagt Letensea und wendet sich ab, um die aufkommenden Emotionen zu bewältigen, während Danay sich fest an ihre Hand klammert.

Letensea trägt eine ihrer Ziegen.
Letensea zapft Wasser vom Brunnen ab.

Solar statt Treibstoff

Letensea und ihr Enkel leben in einer kleinen Gemeinde in weitläufigen, offenen Feldern und auf trockenem Land. Sie ist Mitglied des Wasserkomitees der Gemeinde. Vor dem Konflikt hatte die Gemeinde eine Wasserpumpe installiert, die mit einem treibstoffbetriebenen Generator lief. „Der Generator ging oft kaputt und war nicht leistungsfähig genug, um die von der Gemeinde benötigte Wassermenge zu fördern“, sagt Gebregergis, 75, ein weiteres Mitglied des Wasserkomitees. Als die Kämpfe losbrachen, konnten sie sich den Betrieb der Wasserpumpe nicht mehr leisten.

Ein Portrait von Gebregergis.

„Der Benzinpreis lag während des Konflikts bei 10 US-Dollar pro Liter. Vorher war es nur 1 USD. Und dann gab es einen Mangel an Treibstoff. Also mussten wir während des Konflikts die Wasserpumpe komplett abschalten und wieder zu Fuß zum Wasser gehen“, so Gebregergis weiter. Die Nutzung von Wasser aus Flüssen oder Seen birgt ein hohes Risiko der Krankheitsausbreitung, da diese Wasserquellen leicht durch Defäkationen im Freien verunreinigt werden können, was das Risiko des Ausbruchs von Cholera erhöht. Mit der Unterstützung unseres lokalen Partners REST hat CARE nun Solarzellen installiert, um die Wasserpumpe im SELAM-Projekt zu betreiben. Auch die Schule und die Klinik der Gemeinde wurden an das Wassersystem angeschlossen, so dass sie nun Zugang zu fließendem Wasser haben. „Jetzt gibt es keine Kosten mehr. Kein Transport, kein Treibstoff, weil wir sie selbst betreiben können und sie so leistungsstark ist“, erklärt Gebregergis.

2.000 Menschen haben seit vier Monaten Zugang zu den vier in der Gemeinde verteilten Wasserhähnen. „Die Belastung für Frauen und Kinder hat sich enorm verringert“, fügt Gebregergis hinzu. Letensea läuft nicht mehr zum Fluss, da das in der Nähe ihres Hauses bereitgestellte Wasser ihren gesamten Bedarf deckt. „Ich habe jeden Tag zu Gott gebetet, dass er uns sauberes Wasser bringt. Jetzt ist es da. Jetzt ist es einfacher für mich. Es spart Zeit und Energie. Und ich habe sogar genug zu trinken für meine Schafe“, sagt sie und gibt tiefe, kehlige Laute von sich, um ihre Herde zu rufen. Sie stellt eine grüne Plastikschüssel mit Wasser für sie auf den Boden. Die Schafe sind Letenseas Haupteinkommensquelle, da sie kein Land hat, von dem sie leben kann, und sie bedeuten ihr alles. „Ich bin selbst zum Fluss gegangen, um Wasser zu holen und es den Schafen zu bringen. Ich führe meine Schafe nicht auf diesen gefährlichen Weg. Ich habe zu viel Angst, eines zu verlieren", sagt sie.

Ein Gruppenbild des Wasserkomitees.
Letensea entnimmt Wasser aus dem Brunnen.
Letensea hält ihr Enkel Danay im Arm.

Begrenzte Wasserressourcen

Das Land in Tigray ist trocken und die derzeitige Dürre belastet die Gemeinschaft noch mehr. Selbst mit der solarbetriebenen Wasserpumpe gibt es nicht genug für alle. „Wir müssen den Zugang zu Wasser beschränken. Vier Kanister pro Person, d.h. 80 Liter, und nur in den zugewiesenen Zeiträumen. Wir können in dieser Gruppe unsere vier Kanister zwischen 14 und 18 Uhr holen. So können wir die begrenzten Ressourcen effektiver nutzen“, sagt Gebregergis. Sie beschließen gemeinsam als Komitee, die Herausforderungen der Dürre, die Auswirkungen des Konflikts und die wirtschaftliche Instabilität zu bewältigen.

„Dieses Jahr ist die Dürre besonders schlimm. Vor der Installation der Solarzellen gab es viele Tage, an denen ich ohne einen Tropfen Wasser auskommen musste, weil es für mich so schwierig ist, zum Fluss zu gelangen. Wir versuchen, so gut wie möglich zu überleben, aber wir brauchen Hilfe. Ich bin so dankbar, dass mein Enkel, meine Schafe und ich jetzt wenigstens genug Wasser haben“, sagt Letensea abschließend.

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