
Natalias Hoffnung inmitten der Dunkelheit
Natalia*, eine 60-jährige Frau aus der vom Krieg geplagten Stadt Kostiantynivka in der ukrainischen Region Donetsk, betritt das Gemeinschaftszentrum der CARE-Partnerorganisation Avalyst in Sloviansk. Trotz aller Widrigkeiten lächelt sie. „Ich habe jetzt einen Talisman“, sagt sie und öffnet ihre Tasche. „Ich nehme ihn überall hin mit und erzähle allen davon. Schauen Sie.“ Sie zieht zwei Handzettel hervor, die Schritte für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt beschreiben und Notrufnummern auflisten. „Als ich sie zum ersten Mal sah, verstand ich nicht viel. Ich wusste nicht einmal, was ein Fallmanager ist. Aber ich rief die Nummer trotzdem an – und das veränderte mein Leben.“
Ein zerstörtes Zuhause und der erste Schock
Kostiantynivka war Natalias Heimat. Dort hatte sie geheiratet, ihren Sohn großgezogen und bis zu jenem schicksalhaften Tag ein glückliches Leben geführt: „Es war der schrecklichste Moment des gesamten Krieges. Wir schafften es gerade noch, uns unter einer Decke zu verbergen – unser einziger Schutz vor den Glassplittern, die im nächsten Augenblick durch das ganze Haus flogen. Erst als der Schock nachließ, begriffen wir, dass wir keine Fenster, keine Türen und kein Dach mehr hatten. Unser Zuhause war zerstört, und es blieb uns nichts anderes übrig, als zu fliehen. Es war der Sommer 2022.“
Natalia dachte, das Schlimmste sei vorbei, als sie die ständigen Angriffe in Kostiantynivka hinter sich ließ. Doch in der Sicherheit eines Wohnheims in Dnipro erlebte sie eine andere Art von Albtraum: Die Aggression ihres Ehemannes nahm zu. „In nur zwei Wochen veränderte sich mein Mann, mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte, vollkommen. Es war, als sei er entfesselt. Er fand Freunde im Wohnheim, fing an zu trinken und misshandelte mich dann brutal. Er sperrte mich tagelang ein, und ich konnte nicht einmal das Zimmer verlassen. Mit blauen Flecken und tiefer Verzweiflung fühlte ich mich, als würde mein Leben vergehen.“

Der mutige Schritt in die Freiheit
„Das ging mehr als sechs Monate so. Das Wohnheim war voller Menschen, die so viel tranken wie er, an die ich mich also nicht wenden konnte. Eines Tages kam er sehr betrunken nach Hause, schlief ein und vergaß, die Tür abzuschließen. Ich rannte auf die Straße, nur mit meine persönlichen Dokumenten und meiner Bankkarte, die, wie sich herausstellte, keinen Cent Guthaben mehr hatte. Es gab nur einen Ort, an den ich gehen konnte – zurück zu meinem zerstörten Haus. Also lief ich zum Bahnhof.“ Von dort aus nahm Natalia den Zug nach Sloviansk und dann weiter nach Pokrowsk und schließlich zurück nach Kostiantynivka.
Natalias Nachbarn nahmen sie auf, gaben ihr ein Telefon, änderten ihre Handynummer und unterstützten sie. In einer sozialen Anlaufstelle fand sie schließlich die Broschüren, die sie heute als ihren Talisman bezeichnet. „Es war ein Geschenk Gottes. Nach dem Anruf nahm Iryna, meine Fallmanagerin, mich an die Hand. Sie half mir, eine Rente und Unterstützungsleistungen zu beantragen, brachte mich zu einem Psychologen und organisierte Gruppentrainings und Workshops. Ich fand wieder zu mir selbst. Ich habe einen Job, miete eine Wohnung und spüre wieder Sinn in meinem Leben“, sagt Natalia, während ihre Augen leuchten.
Trotz der Nähe zur Front fühlt sich Natalia in ihrem Zuhause sicherer als in der Stadt, die weiter entfernt lag, aber von der Bedrohung durch ihren Ehemann überschattet war.

Ein neuer Anfang dank Solidarität und Unterstützung
Dank der finanziellen Unterstützung der Europäischen Union in der Ukraine und dem Europäischen Amt für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz kann CARE Frauen wie Natalia unterstützen. Seit Beginn der Eskalation des Krieges in der Ukraine in 2022 hat CARE über 95.000 Menschen Hilfe im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt geleistet. Doch die Notwendigkeit dieser Unterstützung wächst weiter: Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden über 97.000 Meldungen von Überlebenden registriert. Seit Jahresbeginn 2024 haben die Strafverfolgungsbehörden in der Ukraine 8.185 Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt eingeleitet – ein Anstieg um 80 % gegenüber dem Vorjahr.
Unterstützen Sie Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt in der Ukraine mit Ihrer Spende!
* Name zum Schutz der Person geändert.