
Ich habe schon viele Geflüchtete getroffen. Ich stand an der Grenze zum Sudan im Tschad und im Südsudan und habe mit Müttern, Kindern, Großmüttern, Vätern, Brüdern und Schwestern gesprochen. Sie erzählen mir von ihrer Flucht, von der Suche nach Wasser, bei der sie mit ihren bloßen Händen im heißen Wüstensand graben. Sie erzählen mir vom Tod von Familienmitgliedern, von verlorenen Kindern, von Häusern, die nach der Zerstörung durch Bomben nur noch als schwarze Brandspuren auf dem Boden zu erkennen sind. Ich habe unbegleitete Kinder getroffen, die mitten im Nirgendwo gefunden wurden. Kinder, die auf der Flucht vor Hyänen auf Bäumen schliefen und mit ansehen mussten, wie ihre ganze Familie vor ihren Augen getötet wurde. Ich höre Geschichten von Schwestern, die sich gegenseitig retteten und sich immer wieder dazu zwangen, weiterzulaufen, anstatt aufzugeben und einfach nie wieder aufzustehen. Ich höre Geschichten von brennenden Leichen, von Kindern, die über den toten Körpern ihrer Eltern zurückgelassen wurden.
169 Olympische Stadien gefüllt
Wenn ich diese Zahlen und Statistiken höre, habe ich immer Schwierigkeiten, mir vorzustellen, wie viel 12,6 Millionen Menschen wirklich sind. In den Nachrichten werden wir oft mit großen Zahlen konfrontiert, die alle erschreckend und traurig klingen, aber bei diesen großen Zahlen verliert man den Bezug zu den Menschen dahinter, zu der individuellen Geschichte. Also versuche ich mir vorzustellen, wie 12,6 Millionen Menschen aussehen würden. Man bräuchte 169 Olympiastadien in Berlin, um sie alle unterzubringen. 12,6 Millionen Menschen sind so viele Menschen, wie in den 11 bevölkerungsreichsten Städten in Deutschland insgesamt leben: Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf, Leipzig, Dortmund, Essen, Bremen. Es sind mehr als die gesamte Bevölkerung Belgiens oder der Tschechischen Republik, Schwedens, Portugals, Griechenlands, Österreichs oder der Schweiz.

Jede:r hat einen Namen und eine Geschichte
Aber um diese Zahl wirklich zu veranschaulichen und jedes Individuum hinter jeder Ziffer zu erfassen, ist ein besseres Beispiel nötig: Jeder einzelne dieser 12,6 Millionen Menschen hat einen Namen und eine Geschichte. Tian ist eine dreifache Mutter, die ihre Mutter durch eine Bombe verloren hat. Assim ist ein 13-jähriger Junge, der über Leichen springen musste, um sein Leben zu retten. Nadal ist ein siebenjähriges Mädchen, das verloren gegangen ist und von Juma und seiner Familie auf der Flucht in den Südsudan gefunden wurde. Jaqulin ist eine Mutter von neun Kindern, die nur mit einem Topf, einer Blechdose und einer Decke unterwegs war und auf der Flucht vor Tod und Zerstörung eine Woche lang im Gebüsch schlief. Maria kam mit ihrer Tochter im Arm im Tschad an und fühlte sich unglaublich durstig und schwach, da sie vor drei Tagen das letzte Mal etwas gegessen hatte. Teissirs Schwester brannte in ihrem Haus in einem Dorf im Sudan, und sie zog sie aus den Flammen in Sicherheit. Das sind nur einige der Namen der 12,6 Millionen Menschen, die Familienmitglieder und Freunde verloren haben und das schlimmste Trauma durchgemacht haben, das man sich vorstellen kann. Wenn man die Namen der Vertriebenen laut aussprechen würde, bräuchte man eine Sekunde, um eine Person zu nennen:



Eins, Tian, zwei, Assim, drei, Nadal, vier, Jaqulin, fünf, Maria, sechs, Teissir. Würde man fortfahren und jeden einzelnen Namen laut aussprechen, würde das insgesamt 3.500 Stunden oder 146 Tage dauern. 146 Tage, um 12,6 Millionen Menschen laut auszusprechen.
Das kann nicht mehr als ein Versuch sein, sich vorzustellen, wie viel 12,6 Millionen Menschen wirklich sind. Aber in den Krisen dieser Welt ist jeder Mensch, der zu leiden hat, einer zu viel. Das sollten wir nie vergessen!
CARE leistet humanitäre Hilfe und führt Entwicklungsprojekte in über 120 Ländern auf der ganzen Welt durch - so auch im Sudan und dem Südsudan. Ihre Spenden ermöglichen diese Arbeit!