
Die Geräusche des täglichen Lebens laufen normalerweise im Hintergrund ab: das Bellen eines Hundes, der Bus, der Fahrgäste abholt, Menschen, die zur Arbeit gehen, lachende und spielende Kinder. Doch im Krieg haben Geräusche eine andere Bedeutung. In der Ukraine sind sie scharf, laut und furchteinflößend. Diese Geräusche verlangen ständige Aufmerksamkeit und Zuhören - man kann sie nicht ignorieren. Für Tatiana, 69, sind die Geräusche des Krieges zu ihrem ständigen Begleiter geworden, eine unerbittliche Erinnerung an das Trauma, vor dem sie geflohen ist, ausgelöst durch tägliche Bomben und Explosionen. Aber auch in Dnipro, der Stadt, in die sie geflohen ist, sind die Kriegsgeräusche zur Konstante geworden: „Wir hören immer noch oft Raketen fliegen“, sagt Tatiana. Ihre Stimme ist dabei ruhig, doch die innere Last ist ihr anzusehen.
„Es ist ein wachsender Lärm. Zuerst ist es nur ein undefinierbares Geräusch. Dann fängt es an zu summen und zu zischen wie ein Pfeifen. Schließlich hört man eine laute Explosion. Es ist ein furchtbares Geräusch und sehr beängstigend. Dann gibt es Drohnen, die klingen wie Motorräder, die über dem Kopf fliegen.“ Tatiana hält sich jetzt die Hände über die Ohren beim Sprechen.
Heulen, Peitschen und Klatschen
Neben den Geräuschen von Raketen, Explosionen und Drohnen sind auch die Luftalarmsirenen eine Qual. Ihr unheimliches Heulen zerrt an Tatianas Nerven. „Jeden Tag hören wir die Alarme. Die Sirenen gehen ständig los. Mein Telefon piepst und vibriert mit seinen schrecklichen Warnungen“, erklärt sie. Der auf- und abschwellende Ton der Sirenen ist tief in den Knochen zu spüren, eine bedrohliche Kraft, bis er zu einem leiseren Brummen abfällt - nur um dann wieder von vorne zu beginnen. Die Telefone piepsen dreimal, wenn der Alarm ertönt. Eine Kopie des Heulens draußen. Eine Stimme sagt: „Erhöhte Luftbedrohung in Ihrem Gebiet, begeben Sie sich in den nächsten Schutzraum.“ Regierungsmitteilungen, die das Telefon übernehmen, fügen eine weitere Warnschicht hinzu - ein kreischender Alarm, der alle anderen Geräusche durchdringt.
Seit fast drei Jahren lebt Tatiana mit ihrem achtjährigen Enkel in Dnipro, nachdem sie im April 2022 aus Kramatorsk geflohen war. Ihr älterer Enkel wurde im Krieg schwer verletzt und lebt nun mit einer Behinderung im Alter von nur 22 Jahren. „Wenn es eine ballistische Warnung gibt, nehme ich meinen Enkel und wir suchen Schutz, wobei wir die Zwei-Wände-Regel befolgen“, sagt sie und beschreibt die grausame Sicherheitsroutine, bei der fensterlose Räume gefunden werden müssen, zum Schutz vor Explosionen, die Fenster und Wände zerreißen.

„Wenn wir Explosionen hören, rennen wir blitzschnell in den Korridor. Manche Explosionen sind kurz und scharf wie ein Klatschen oder eine Peitsche. Andere sind lauter und nehmen an Intensität zu.“ Ihr Enkel, der jetzt älter und aufmerksamer ist, versteht die Gefahr. Wenn er Explosionen hört, schreit er: „Wir werden angegriffen!“ Manchmal schlafen Tatiana und ihr Enkel auf kleinen Klappstühlen im Flur. „Ich lege eine Decke über ihn und versuche, ihn schlafen zu lassen. Nach drei Jahren haben wir eine Routine. Ich bin immer in Alarmbereitschaft. Oft sitze ich da und warte auf Explosionen, auf das Ende der Sirenen und Alarme, und meine Panik steigt“, sagt sie.

Gemeinsam heilen
Trotz ihrer unerbittlichen Wachsamkeit und ihrer allgegenwärtigen Angst hat ein neuer Klang begonnen, Tatianas Leben zu prägen - das sanfte Summen der Stimmen bei den psychosozialen Gruppentreffen in einem humanitären Zentrum, das von CAREs lokaler Partnerorganisation organisiert wird. Hier kommen Tatiana und andere Vertriebene zusammen, um zu heilen und Kontakte zu knüpfen. „Ich bin dankbar für die Möglichkeit, an diesen Sitzungen im Zentrum teilzunehmen“, sagt Tatiana, und in ihrem Tonfall schwingt ein Hauch von Hoffnung mit. „Wir machen eine Menge Entspannungsübungen. Ich komme mindestens drei- oder viermal pro Woche hier her und bringe auch meinen Enkel zu den Kindergruppen mit."
In der heutigen Sitzung arbeitet die Gruppe an einer einfachen, aber tiefgreifenden Aufgabe: Sie zeichnen die Silhouette einer Person und fügen Details hinzu, um eine Verbindung zu ihren Sinnen und Gefühlen herzustellen.

Die Augen werden gezeichnet, um „gute Dinge zu sehen“, die Hände, um „angenehme Dinge zu berühren“, und die Nase, um „schöne Dinge zu riechen“. Der Raum füllt sich mit leisem Lachen und Geplauder, während die Teilnehmer erzählen, was ihnen Freude bereitet. „Wenn ich einen Kuchen sehe, macht mich das glücklich“, sagt eine Teilnehmerin, während andere ihre Freuden hinzufügen: „Schnee“, „Blumen“, „Kaffee“, „Frühling“, „Schokolade“, „Luftballons“, „frisches Brot.“ Für Tatiana ist die Tätigkeit erdend. „Ich verwende die Techniken, die ich hier gelernt habe. Wenn ich an einen angenehmen Klang denke, denke ich an die Musik, die ich liebe. Bach und die Suite von Peer Gynt.“ Die Musik hilft ihr beim Atmen, wenn sie mit ihrem Enkel im Arm auf dem Klappstuhl im Korridor sitzt und versucht, die Alarme, Sirenen und Explosionen auszublenden. Die Musik fühlt sich an wie ein sanftes Erwachen, ruhig und voller Verheißung. Sie ruft das Gefühl hervor, einen Sonnenaufgang über einer idyllischen Landschaft zu beobachten.
Momente der Ruhe
Die Techniken, die Tatiana im Zentrum lernt, sind mehr als nur Übungen - sie sind ihre Lebensgrundlage. Wenn sie in Panik gerät, hat sie gelernt, fünf Farben, drei Gerüche und einen Lieblingsgeschmack zu erkennen oder verschiedene Oberflächen zu ertasten. „Wenn ich daran denke, angenehme Dinge zu berühren, denke ich ans Nähen. Das Gefühl von Faden und Stoff an meiner Haut beruhigt mich.“

Für Tatiana ist das Zentrum mehr als nur ein Ort zum Lernen - es ist ein Zufluchtsort. „Ich wüsste nicht, was ich ohne CARE, das Zentrum und die Helferinnen hier tun würde. Sie schenken mir so viel Ruhe.“
In einer Welt voller Kriegslärm - Raketen, Sirenen, Explosionen - haben die Klänge der Heilung einen Platz in Tatianas Leben gefunden. Das sanfte Auf und Ab von Musik, das Summen von Gesprächen und das Rascheln von Malstiften auf Papier erinnern sie an eine Welt jenseits des Krieges. Inmitten des Chaos findet sie kleine, aber tiefe Momente des Friedens.
CARE und seine Partner werden weiter Hilfe leisten, damit Menschen wie Tatiana ein Stück Hoffnung im Alltag spüren. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrer Spende!