Die Geschichte von Olha
Seit fast einem halben Jahrhundert lebt die 72-jährige Olha im selben Plattenbau in Sloviansk. Doch heute gleicht ihr Zuhause kaum noch einem Ort, der zum Verweilen einlädt. Seit über eineinhalb Jahren sind die Fenster in ihrem Zimmer mit blauer Plastikfolie verhängt - ein behelfsmäßiger Schutz vor Wind, Regen und Explosionen. Diese Folie hält aber auch die Sonnenstrahlen ab, wodurch ihr Zimmer in ständiges Dämmerlicht getaucht ist. Den letzten Winter verbrachte Olha mit dieser notdürftigen Abdeckung. Sie hofft nun, dass die CARE-Partnerorganisation Avalyst ihr bald bei der Installation eines neuen Fensters helfen wird, denn ihre bescheidene Rente erlaubt es ihr leider nicht, dies aus eigener Kraft zu bezahlen.
Der Schmerz des Krieges - in Erinnerungen und im Alltag
In ihren 48 Jahren im Gemeinschaftswohnheim hat Olha viel erlebt: Die friedlichen Zeiten, aber auch den Krieg, der 2014 begann, als ihre Heimatstadt Sloviansk zum Schlachtfeld wurde.
„2014 haben wir schnell einen Schutzraum organisiert. Damals gab es noch Kinder im Gebäude, darunter eine Mutter mit einem zwei Monate alten Baby. Wir hielten alle zusammen und haben einander geholfen“, erinnert sich Olha. „Wir unterstützten die älteren Frauen, da sie es nicht einmal alleine in den tiefen Keller schafften, wo wir stundenlang ausharren mussten.“ Diese Erinnerungen führen sie zurück in eine Zeit, in der die Menschen trotz der Dunkelheit nicht aufgaben.
Doch 2022, als der Krieg zurückkehrte, flohen die meisten jüngeren Bewohner. „Damals rannten alle, wohin sie nur konnten. Jetzt sind nur noch diejenigen übrig, die nirgendwo hin können. Wir Verbliebenen versuchen nach Leibeskräften, uns gegenseitig über Wasser zu halten.“
Heute leben nur noch sechs Familien in dem Plattenbau, der einst 30 Wohnungen beherbergte. Die übrigen sind geflohen. Seine Fenster sind jetzt zersplittert, das Dach ist beschädigt, und die Wände bröckeln täglich unter den Druckwellen der Explosionen. „Wir haben die Plastikfolie selbst gekauft und versucht, unsere Wohnungen so gut wie möglich zu schützen. Wir haben nicht nur unsere eigenen Fenster abgedeckt, sondern auch die der Nachbarn - auch wenn sie weg sind, bleiben wir in Kontakt.“
Leben auf einem Pulverfass
Die Luftschutzsirene funktioniert in Sloviansk nicht mehr, deshalb verlassen sich Olha und ihre Nachbarn auf den Klang ferner Explosionen aus den umliegenden Städten. „Wenn wir Explosionen hören, gehen wir in den Flur.“
Olha erinnert sich lebhaft an den Tag, als eine Rakete in der Nähe des örtlichen Krankenhauses einschlug: „Es schleuderte mich regelrecht aus dem Bett. Die Tür wurde weggerissen, das Fenster zersplitterte, und die Decke kam herunter. Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu haben. Ich stand auf und wusste nicht, ob es ein Traum oder wirklich geschehen war.“
In einem nahegelegenen Gebäude schlug eine Rakete in die Wohnung einer jungen Frau ein. Nach diesem Erlebenis hörte sie auf zu sprechen. Die junge Frau lebte noch weitere sechs Monate, erlag dann aber den Folgen des erlittenen Traumas.
„Die Menschen sind erschöpft und sehnen sich nach Frieden“, seufzt Olha. Trotzdem trägt ihre Stimme nicht nur Schmerz, sondern noch immer auch einen Schimmer Hoffnung in sich.
„Niemand sollte jemals Krieg erleben müssen“
Olha spricht mit Weisheit und Trauer über den Krieg. Sie hat Tod und Zerstörung gesehen und miterlebt, wie der Krieg Menschen zerbricht und sie orientierungslos zurücklässt. „Es ist ein Leben auf einem Pulverfass. Heute lebt ein Mensch noch, und morgen ist er fort. Es ist erschütternd, wenn ein Kind vor Angst schreit, während es mit ansehen muss, wie beide Eltern vor seinen Augen sterben.“
Als Mutter, Großmutter und Frau fällt es Olha schwer zu akzeptieren, dass ältere Menschen, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben, nun nirgendwo hin können, während das Leben der Kinder und Jugendlichen durch den Krieg zerrüttet wird. „Niemand sollte jemals erleben müssen, was Krieg bedeutet. Er verwandelt ganze Leben in nur einem Augenblick zu Asche.“
Olha klammert sich an die Hoffnung auf bessere Tage, doch ihr Leben ist eine eindringliche Erinnerung daran, wie der Krieg das Schicksal von Millionen Ukrainern neu geformt hat. Ihre Geschichte ist nur eine von vielen, die oft unerzählt bleiben, aber es verdienen, gehört zu werden. Glücklicherweise gibt es Menschen, die sich um Menschen wie Olha kümmern. Dank der Unterstützung von CARE und seinen Partnern wurde kürzlich das Dach des Wohnheims repariert, und bald werden neue Fenster eingebaut, die wieder Sonnenlicht in Olhas Zimmer lassen werden. Diese lebenswichtige Hilfe kommt gerade rechtzeitig vor dem bevorstehenden Winter und bringt etwas mehr Licht in das Leben einer vom Krieg gezeichneten Frau.
Die Unterstützung, die CARE Frauen wie Olha leisten kann, wird durch die Förderung der Europäischen Union in der Ukraine und dem Europäischen Amt für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz ermöglicht.
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