Sudan: „Der langsame Tod des Alltags“

Nada, 39, sitzt auf einem kleinen Schulstuhl inmitten eines überfüllten Klassenzimmers in einer Schule, die in der Nähe des Meeres von Port Sudan zu einer Notunterkunft umfunktioniert wurde. Sie schaut ihre Tochter Bardia, 18, an, die neben ihr sitzt, ihre Hand hält und bei jedem Wort ihrer Mutter lächelt. Bardia hat seit ihrer Geburt eine geistige Behinderung, die ihre Sprache und Mobilität beeinträchtigt. „Wir hatten ein normales Leben. Wir waren glücklich und dankbar für das, was wir hatten“, sagt Nada mit leiser, aber trauriger Stimme und legt ihren Arm um Bardias Schultern. „Ich erinnere mich, an meine Ziegen am meisten. Meine Tiere waren unser Sicherheitsnetz. Sie waren unser Überleben.“ Sie hält inne, atmet tief durch und fährt fort: „Ich war gerade beim Kochen, als der Krieg begann. Ich erinnere mich an die Schüsse und Schreie und daran, wie die Menschen um ihr Leben rannten. Ich wusste sofort, was los war, wir hatten die Geschichten aus Khartum und Darfur gehört, und mein erster Gedanke war, meine Mädchen zu beschützen. Ich schrie sie an, sie sollten weglaufen, egal wohin, aber sie weigerten sich, ohne mich zu gehen.“

Mutter und erwachsene Tochter in einem Raum der Notunterkunft in einer Schule

Wirst du meine Mutter erschießen?

Nada hat fünf Kinder im Alter zwischen 22 und 9 Jahren. Ihr Mann war Landwirt in ihrem Haus in Al Jazirah, wo sie bis Dezember 2023 lebten, bis der Krieg sie zur Flucht zwang. „Ich wusste, dass Bardia nicht schnell genug laufen konnte. Aber wir mussten es versuchen. Wir schafften es bis zu einem kleinen Bach, und ich beschloss, uns dort zu verstecken. Ich sagte meinen anderen Töchtern, dass sie mich zurücklassen müssten. Ich hatte Angst, dass sie vergewaltigt werden würden, wenn sie bei mir blieben.“ Nada, ihre jüngste Tochter, und Bardia blieben und versteckten sich. Bardia weinte und schrie, dass sie nach Hause wollte. Ihre Jüngste fragte, ob sie erschossen werden würde. „Ich zog meine Mädchen einfach an mich und versuchte, sie zu trösten und zu beruhigen.“

Ihr Mann war in einem anderen Dorf, um eine ihrer Ziegen auf dem Markt zu verkaufen, als das Chaos ausbrach. Als der Lärm des Krieges nachließ, kehrte Nada nach Hause zurück. Dort angekommen, schossen bewaffnete Männer auf ihre Fenster und schrien Nada an, sie solle herauskommen. Es war dunkel, ohne Strom. Nada kam allein heraus, zitternd, und schirmte ihre Töchter ab, die sich unter dem Bett versteckt hatten. „Sie fragten mich, was ich hier mache, und ich versuchte zu erklären, dass dies mein Zuhause ist. “ Die bewaffneten Männer schrien: „Du lügst. Du versteckst etwas.“ Sie nahmen ihr die Eheringe weg. Einer der Männer drückte sie zuerst gegen die Wand, dann auf den Boden. „Er versuchte, mich zu berühren und mich zu vergewaltigen. Ich fing an zu schreien, und er hielt mich mit seinem Körper auf dem Boden fest.“ In diesem Moment kam Bardia nach draußen und schrie mit ihren wenigen Worten, aber voller Kraft, um sie aufzuhalten. Dann folgte die jüngste Tochter und schrie: „Wollt ihr meine Mutter töten?“ Nada sammelte all ihre Kraft und konnte sich befreien. Dann zog sie ihre Töchter an sich und versteckte sie mit ihrem Körper. Die Männer rannten davon, drehten sich dann um, warfen Steine und schrien, dass sie zurückkommen würden. Nada und ihre Mädchen flohen zum Haus eines Nachbarn. Als sie am nächsten Tag zurückkehrten, war alles, was sie besaßen, verschwunden, einschließlich aller geliebten Ziegen und Schafe von Nada. Beim Reden umklammert Nada ihren Oberkörper. Die Tränen sind hinter ihrem Kopftuch verborgen. Sie kann nicht atmen. Bardia drückt die Finger ihrer Mutter, als sie ihre Not spürt.

Eine Frau in einem Schulgebäude, welches als Notunterkunft dient

Nada fand ihre älteren Töchter fünf Tage später, nachdem sie jedes Dorf in der Umgebung nach ihnen abgesucht hatte. „Sie erzählten mir, dass sie beim Überqueren eines Flusses von bewaffneten Männern aufgehalten wurden. Sie wurden durchsucht und zu Boden gedrückt. Sie richteten eine Waffe auf eine meiner Töchter, die 16-jährige Fatima. Sie träumt noch heute davon und wacht schreiend auf: ‚Sie greifen mich an, sie werden mich erschießen.‘“ Als die Familie wieder vereint war, fanden sie einen Lkw-Fahrer, der sich bereit erklärte, sie mitzunehmen. Zwei ganze Tage lang fuhren sie auf der Ladefläche, eingequetscht zwischen Waren, nach Port Sudan. „Ich musste meine Kinder trösten. Ich sagte ihnen, dass wir in Sicherheit seien. Und dass dies nur eine Erinnerung sein werde. Dass alles vorbei sei. Aber tief in meinem Inneren hatte ich selbst große Angst.“

Sie kamen nachts am Busbahnhof an. Nada sagt: „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich kannte niemanden. Diese Stadt war mir fremd. Ich hatte kein Telefon. Wohin sollte ich gehen?“ Seit eineinhalb Jahren leben sie nun schon in diesem heißen Klassenzimmer. „Anfangs gab es hier regelmäßig Essensausgaben, aber nach ein paar Monaten wurden diese eingestellt, da die Mittel aufgebraucht waren. Ich begann, nach einer Einkommensquelle zu suchen. Ich gehe von Haus zu Haus und biete Reinigungsdienste an, aber ich verdiene nur maximal 2 US-Dollar pro Tag.“ Da weltweit die Mittel gekürzt werden, spüren Menschen wie Nada im Sudan die direkten Auswirkungen des Mangels an Geld für humanitäre Hilfe. Das Überleben von Millionen von Vertriebenen in diesen Schulen und anderen Unterkünften im Sudan hängt von Hilfe ab, doch die Krise im Sudan findet nicht die nötige Aufmerksamkeit, und Menschen wie Nada kämpfen jeden Tag ums Überleben. Auf die Frage, ob sie derzeit etwas zu essen habe, zögert Nada. „Wir kämpfen ums Überleben. Wenn es keine Arbeit gibt, gibt es nichts zu essen. Heute gab es nichts zu essen für uns.“ Ihre ältere Tochter bringt ein Moskitonetz voller Samen mit. Sie rösten sie über offenem Feuer, um sie zu verkaufen, wenn sich Menschen versammeln, insbesondere während eines Fußballspiels. Was sie verdienen, verbrauchen sie sofort. „Wir können keine Lebensmittel aufbewahren, da wir nicht einmal genug für einen einzigen Tag haben. Aber das Leben geht weiter. Wenn wir nichts kaufen können, versuchen wir, etwas altes, trockenes Brot von den Bäckern zu bekommen.“

Frau steht vor einer Wasserblase von CARE und holt Wasser
Frau in einer Notunterkunft mit Wasserkanister

Eine Wasserblase zum Überleben

Um Wasser muss sich Nada keine Sorgen mehr machen. „Seit CARE hier ist, haben wir genug Wasser. Früher mussten wir sauberes Trink- und Kochwasser von Lieferwagen kaufen.Wasser ist teuer. 35 Cent für 10 Liter, was für uns sechs nicht einmal für einen Tag reicht. Für alle anderen Zwecke haben wir das salzige Meerwasser zum Reinigen, Waschen und Baden verwendet.“ Die Schule verfügt nun über drei große Wasserblasen. Große graue Kissen, gefüllt mit 20.000 Litern sauberem Wasser. Der Bau dieser Blasen ist einfacher als der eines festen Wassertanks. Zumal in diesem prekären Konflikt jederzeit die Notwendigkeit entstehen kann, sie an einen anderen sicheren Ort zu bringen.

Das Klassenzimmer-Refugium ist glühend heiß. Mehrere Familien teilen sich den Raum. Vier Familien in Nadas Klassenzimmer, nur durch an den Wänden aufgehängte Tücher voneinander getrennt. Auf den Schultischen stapeln sich Koffer, die als Stauraum und Betten dienen. Schweiß tropft von Nadas Stirn und Schläfen. Sie atmet schwer. „Ich habe Angst, dass wir wieder fliehen müssen und dann keinen Zugang mehr zu dem Wasser haben, das CARE bereitstellt. Dass meine Kinder wieder aus der Schule gerissen werden. Meine 16-Jährige hat gerade ihr Zeugnis bekommen, um ihre Sekundarschulausbildung fortzusetzen, aber dafür brauchen wir einen stabilen Ort. Ich bin so stolz auf sie, aber auch so traurig, dass dieser Krieg ihre Träume zerstört.“ Hinter ihrer Tochter hängt an einer Tafel der Haushaltsplan für Sonntag bis Samstag: Wäsche, Putzen, Waschen. Heute ist Mittwoch und Fatima muss das Klassenzimmer putzen. Wo früher der Stundenplan stand, stehen heute die Aufgaben zum Überleben. 

„Ich bin nur eine von Millionen, deren Leben zerstört wurde. Ich habe alles verloren. Wir brauchen Unterstützung, um unser Leben wieder aufzubauen, damit wir wieder leben können. So kann es nicht weitergehen. Das wird uns eines Tages umbringen – und zwar bald.“ Nada hält inne und fährt dann fort: „Ich habe jeden Tag Angst. Beschossen zu werden oder Explosionen zu hören, macht mir nicht so viel Angst. Was mir Angst macht, ist dieser langsame Tod des Alltags.“

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