Jean-Michel Vigreux arbeitet bei CARE und ist Länderdirektor in Haiti. Er berichtet davon, wie es gerade in Haiti aussieht und wie er Hurrikan Matthew mitbekommen hat.

Als Hurrikan Matthew auf Haiti traf, wurden sofort ähnliche Auswirkungen wie nach dem Erdbeben von 2010 befürchtet. Ich konnte mir jedoch nicht vorstellen, dass ein Wirbelsturm tatsächlich Schäden von einem vergleichbaren Ausmaß anrichten könnte. Doch in Jeremie, der Hauptstadt der Region Grand’Anse, die am stärksten von Matthew getroffen wurde, wurde ich eines besseren belehrt. Dort sah ich das unfassbare Ausmaß der Zerstörung mit eigenen Augen.

Apokalyptische Szenen

Die Fahrt von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince nach Jeremie dauerte neun Stunden. Je weiter wir nach Westen fuhren, desto größer wurde die Zerstörung. Die leuchtend grünen Bäume und Wiesen verwandelten sich in karges Ödland voller Geröll und Trümmer. Unseren ersten Halt machten wir an einem Bildungszentrum in der Hafenstadt Les Cayes, wo CARE-Helfer:innen warmes Essen und sauberes Trinkwasser verteilten. Ich fragte eine Gruppe von Frauen, wann sie in ihre Häuser zurückkehren würden. Eine von ihnen zuckte mit den Schultern und antwortete:

„Wir haben kein Haus mehr, in das wir zurückkehren könnten.“

Wionente hält ihr Kind im Arm.
Jean-Michel Vigreux von CARE mit Haitianern nach Hurrikan Matthew

Ich hätte nicht gedacht, dass die Zerstörung noch schlimmer werden könnte. Doch als wir Jeremie erreichten, breitete sich vor unseren Augen eine apokalyptische Szene aus. Jedes einzelne Haus war beschädigt oder zerstört. Auf der Straße erzählte mir ein Mann, dass die Menschen, die noch ein einigermaßen intaktes Haus besaßen, diejenigen aufnahmen, die alles verloren hatten.

Fast alle Menschen in Jeremie haben ihr ganzes Hab und Gut verloren.Die Menschen besitzen weder Häuser, noch Ernte oder Vieh. Und viele haben außerdem geliebte Menschen verloren. Es fehlt an Essen. Die Wasserquellen sind kontaminiert, sodass es kaum sauberes Trinkwasser gibt, wodurch die Anzahl der Cholerafälle alarmierend schnell steigt. Da alles zerstört ist, haben die Menschen kaum noch Einkommensquellen. Ihnen bleibt nur der Verkauf von umgestürzten Bäumen als Feuerholz.

Mehr als eine Million Menschen sind in Haiti auf akute Hilfe angewiesen. Im Angesicht der vielen verzweifelten Menschen habe ich das Gefühl, dass wir dringend mehr tun müssen. Es wird sofortige und langfristige Unterstützung benötigt, denn es wird lange dauern, bis sich die betroffene Region erholt hat.
Im Unterschied zum Erdbeben von 2010 läuft der Transport von Hilfsgütern nur schleppend an. Nach dem Erdbeben flossen Milliarden Euro in die humanitäre Hilfe für Haiti. Nach Hurrikan Matthew hingegen waren es bisher nur ein paar Millionen Euro.

Es hat sich viel getan

Ich verstehe, dass viele Menschen zögern, Haiti zu unterstützen, nachdem sie mitbekommen haben, was damals nach dem Erdbeben schief gelaufen ist. Doch Haiti hat sich seit 2010 stark verändert. Erstens liegt der Schwerpunkt der aktuellen Übergangsregierung in der Stärkung der demokratischen Strukturen, damit die Bevölkerung an der politischen Gestaltung aktiv teilnehmen kann. Der Regierung ist es gelungen, mit eigenen finanziellen Mitteln Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zu organisieren, die eigentlich am 9. Oktober stattfinden sollten. Wegen des Hurrikans mussten sie verschoben werden. Zweitens zieht sich die Regierung nicht wie nach dem Erdbeben aus der Organisation der Hilfslieferungen zurück, sondern sie hat ganz im Gegenteil proaktiv die Verantwortung für die Vorbereitung der Verteilungen und die Koordination innerhalb der humanitären Gemeinschaft übernommen. Schließlich muss betont werden, dass nicht alle humanitären Organisationen nach dem Erdbeben Gelder verschwendet haben. CARE hat in einem öffentlichen Bericht aufgezeigt, wie die ca. 100 Millionen Euro erfolgreich dafür verwendet wurden, den Menschen fünf Jahre lang beim Wiederaufbau zu helfen.

Vor dem Hintergrund der vielen Katastrophen, die Haiti in den letzten Jahren getroffen haben, ist es beeindruckend, wie widerstandsfähig die Menschen hier sind. Nach Hurrikan Sandy im Jahr 2012 verwendeten die von CARE gegründeten Kleinspargruppen ihre eigenen Ersparnisse in Höhe von mehr als 40.000 Euro für den Wiederaufbau ihrer Gemeinden. Anschließend begannen sie, für die nächste Katastrophe zu sparen.

Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren

Trotzdem ist Haiti noch immer das ärmste Land in der westlichen Halbkugel und wird auch in Zukunft extrem anfällig für Naturkatastrophen sein. Sogar in einem reichen Land wie den USA dauert der Wiederaufbau nach einer Katastrophe wie Hurrikan Matthew einige Jahre.

Ich hoffe sehr, dass das Mitgefühl der Menschen gegen ihre Vorbehalte siegt. Weitere Unschuldige werden sterben, wenn nicht bald neue Ressourcen in Haitis Wiederaufbau investiert werden. Die Zeit läuft uns davon. Wir müssen jetzt handeln. Hier geht es nicht nur sprichwörtlich um Leben und Tod.

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