Im Nordwesten Syriens haben starke Regenfälle zu schweren Überschwemmungen geführt, die die Zelte von Tausenden Geflüchteten überflutet und unbewohnbar gemacht haben. Durch die Kälte drohen vor allem Kinder, Ältere und Menschen mit Behinderungen zu erfrieren. Im Interview berichtet CARE-Länderdirektorin Jolien Veldwijk von den katastrophalen Zuständen, denen Syrer:innen derzeit ausgesetzt sind.
Wie ist die aktuelle Situation der Menschen in Syrien?
Jolien Veldwijk: Das Leid der Menschen in Syrien während des Winters ist unvorstellbar. Im Nordosten und Nordwesten des Landes sind Millionen Menschen vertrieben worden, die meisten von ihnen leben in Lagern und improvisierten Siedlungen. Die Temperaturen fallen jetzt wieder weit unter den Nullpunkt. Im Nordwesten Syriens sind seit Dezember letzten Jahres hunderte Zelte von Überschwemmungen weggespült und von starken Winden zerstört worden. Unsere humanitären Partner berichten, dass Menschen in zerrissenen Hemden und Kinder in Flipflops herumlaufen. Die Menschen können ihren eigenen Atem sehen, wenn sie auf ihren dünnen Matratzen auf den kalten Böden der verbliebenen Zelte liegen.
Vor allem diejenigen mit Vorerkrankungen haben es schwer. Einer unserer syrischen Partner berichtete, dass jede:r Dritte eine Person kennt, die wegen der Kälte gestorben oder erkrankt ist. Erkältungs- und Atemwegserkrankungen nehmen zu und breiten sich aus, ganz zu schweigen von der Gefahr durch COVID-19; man darf nie vergessen, dass wir hier von überfüllten Lagern ohne ausreichende medizinische Versorgung sprechen.
Die meisten Vertriebenen berichten, dass sie sich den Kauf von Masken oder anderen Mitteln zum Schutz vor übertragbaren Krankheiten nicht leisten können. Ihnen fehlen Lebensmittel, Medikamente und sauberes Wasser. In ihrer Not haben sie begonnen Kleidung, Reifen und weitere gefährliche Materialien zu verbrennen, was zu gefährlichen Umweltbelastungen führt. In einigen Lagern sind Brände ausgebrochen und viele Menschen sind erstickt.
Hat sich die Situation in den letzten Jahren verschlimmert?
JV: Schneefall und Minustemperaturen sind in der Region nichts Ungewöhnliches, aber in den letzten Jahren hat der Klimawandel die Lage noch verschlimmert. Es treten vermehrt Überschwemmungen und Regenfälle auf, die die Zelte und die wenigen Habseligkeiten der Menschen einfach wegspülen.
Nach elf Jahren Krieg sind die Ressourcen verbraucht. Inflation, in die Höhe geschnellte Lebensmittelpreise und die weltweite COVID-19-Pandemie haben dazu geführt, dass die Menschen keine finanziellen Puffer mehr haben. In vielen Teilen Syriens haben zudem Dürre und schwere Regenfälle die Ernten vernichtet, so dass die Menschen gezwungen sind, ihr letztes Geld für den Kauf teurer Lebensmittel auf den Märkten auszugeben. Die Winter werden härter und lebensbedrohlicher, und die Menschen halten den eisigen Temperaturen immer weniger stand.
Was erzählen die Bewohner:innen in den Lagern den CARE-Mitarbeiter:innen über ihre Situation?
JV: Sie sind entsetzt. Sie stehen knietief im Schlamm, ihre Zelte stehen unter Wasser. Frauen lassen ihre kleinen Babys und Kinder kaum los, um ihnen etwas Wärme zu geben. Eine Frau hat uns erzählt, dass sie nachts nicht schlafen kann, weil sie immer wieder nachsieht, ob ihre Kinder noch am Leben sind. Es ist schwer, sich den Stress und die Angst der Frauen vorzustellen, die mit einer solchen Situation konfrontiert sind!
Vor dem Winter befragte CARE über 1.250 Personen in 101 Lagern und Siedlungen im Nordwesten Syriens. Sie sind nach wie vor sehr besorgt über die hohe Anzahl von besonders gefährdeten Menschen in den Lagern, insbesondere ältere Menschen, schwangere und stillende Frauen sowie Menschen mit Behinderungen.
Von den über 10.000 Zelten, die unsere Teams überprüft haben, waren 51 % in einem sehr schlechten Zustand. Bei starkem Regen und strengen Winterbedingungen brechen die Zelte einfach zusammen. Darüber hinaus leben über 40 % der Vertriebenen in teilweise zerstörten Häusern oder an Orten, die sie nicht vor der Kälte schützen.
Wie hilft CARE den Menschen in Syrien, den Winter zu überstehen?
JV: Vor und während des Winters hat CARE damit begonnen, Zelte in den Lagern zu reparieren und sie gegen Kälte und Regen zu isolieren. Außerdem verteilen wir Heizungen, Decken, Wetterschutzsets und Brennstoff an die Geflüchteten und unterstützt Zehntausende von Familien mit Bargeld und Gutscheinen. Die Menschen wissen selbst am besten, was sie brauchen, um warm zu bleiben, und wie sie das Geld am effektivsten einsetzen können. Wir verteilen auch Hygienesets mit Seife, Shampoo, Masken und Hygieneeinlagen für Frauen und Mädchen.
Was muss noch getan werden?
JV: Die finanzielle Situation ist nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg wirklich schlimm, vor allem seit dem Ausbruch der Pandemie. Wir brauchen dringend finanzielle Mittel, um mehr Zelte und Flüchtlingsunterkünfte reparieren und mehr Bargeld verteilen zu können, damit die Menschen dringend benötigte Decken, warme Kleidung, Medikamente und Lebensmittel kaufen können.
Während der Bedarf weiter wächst, erschweren die Erschöpfung durch die Krise, die Mittelkürzungen und die Sanktionen die Bereitstellung humanitärer Hilfe ungemein. CARE Syrien appelliert dringend an die internationale Gemeinschaft, mehr Mittel für Schutz und den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen. Vor allem müssen wir sicherstellen, dass die Bedürfnisse von gefährdeten Frauen und Mädchen gedeckt werden.
So hilft CARE in Syrien
Im Nordosten unterstützt CARE 45.222 Menschen in Lagern, Sammelunterkünften und ländlichen Gebieten, in denen gefährdete Personengruppen dringend Hilfe benötigen. Zum Schutz vor Regen und Kälte verteilt CARE unter anderem warme Kleidung und Decken.
Im Nordwesten Syriens unterstützt CARE 30.000 Familien mit Geldgutscheinen und 11.000 Menschen mit Haushaltsartikeln. Außerdem verteilt CARE insgesamt 11.000 Hygienesets, die unter anderem Seife, Zahnbürsten und Zahnpasta sowie Hygiene-Pads für Frauen enthalten.
In ganz Syrien unterstützt CARE Vertriebene dabei, ihre Zelte zu isolieren und ihre Notunterkünfte zu verstärken, um sie vor der Kälte zu schützen. Insgesamt erreicht CARE in diesem Winter 86.222 Menschen in Syrien.