Zwei Frauen, zwei Welten, zwei Generationen. Und ein Briefwechsel, der sie verbindet. Dies ist die Geschichte von Helga und Sajeda.

Eigentlich wollte Sajeda in Syrien bleiben. Doch irgendwann war die Situation nicht mehr auszuhalten. Ihre Stadt wurde immer stärker bombardiert, immer mehr Menschen starben. Als ihre Eltern beschlossen zu fliehen, versteckte sich Sajeda auf dem Dachboden. Sie wollte nicht gehen. Aber ihre Eltern entdeckten ihr Versteck und die Familie machte sich schnell auf den Weg, mit nur wenig Gepäck.

Sajeda spielt in der Wohnung Fußball.

Flucht aus Syrien

„Wenn mich jemand fragt, was das Wichtigste ist, das ich in Syrien zurückließ, antworte ich: Mich selbst.“

Heute ist Sajeda 16 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in einer ärmlichen Gegend im jordanischen Zarqa, nahe der syrischen Grenze. In Zarqa kommt es oft zu Streit zwischen neuankommenden Flüchtlingen und Bewohner:innen, die bereits länger vor Ort sind. Jede Neuankunft von Familien bedeutet vollere Klassenzimmer und einen schwierigeren Zugang zu Dienstleistungen. Aus Angst, nicht akzeptiert zu werden, bleiben Sajeda und ihre Geschwister oft den ganzen Tag in der Wohnung, anstatt draußen zu spielen.

Eine Frau sitzt in der Küche und schreibt einen Brief.

Hoffnung aus der Ferne

Sajeda macht sich einen Tee und setzt sich mit dem Brief an die Heizung. Er kommt aus einem Ort, dessen Namen sie noch nie gehört hat: Colorado Springs. Geschrieben hat ihn die 87-jährige Helga Kissel.

„Liebe Sajeda! Wir grüßen Dich aus der Ferne!“, beginnt der Brief. „Jetzt ist es Winter hier, der Himmel ist blau und der Schnee glänzt auf den Bergen!“

Als sie in Helgas Lebensgeschichte eintaucht, wird Sajeda ganz still. „Ich weiß genau wie es ist, sein Zuhause zu verlieren und ein Flüchtling zu sein“, schreibt Helga. Sie erzählt von ihrer Jugend in Berlin während des Zweiten Weltkriegs. „Im Februar 1945 gab es schreckliche Luftangriffe auf meine Stadt. Bei einem Angriff kam mein Vater ums Leben. Unser Haus wurde bombardiert, wir verloren unser gesamtes Hab und Gut. Meine Mutter und ich hatten Glück, dass wir einen der letzten Züge nehmen konnten, die aus der Stadt fuhren! Alles, was wir noch besaßen, hatten wir in einen Koffer gepackt.“

"Sieh' mutig in die Zukunft."

Sie liest weiter, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Vergiss nie, wie es früher war und sieh‘ mutig in die Zukunft. Es ist niemals leicht, sich in einem fremden Land einzugewöhnen.

Sajeda weint. Sie bedeckt ihr Gesicht mit den Händen und wischt sich Tränen von der Wange. Sie dachte immer, dass nur sehr wenige Menschen wüssten, was Syrer:innen durchmachen müssen. Doch Helgas Worte fühlen sich wie eine stärkende Hand auf der Schulter an, obwohl 11.000 Kilometer und 71 Jahre zwischen ihnen liegen. „Helga kann meine Situation nachvollziehen und fühlt mit mir“, sagt die 16-Jährige.

Helgas Familie fand damals Zuflucht in Bayern. „Dort war es ruhig und friedlich, aber die Leute waren nicht sehr freundlich. Sie mussten ihre Häuser mit uns Flüchtlingen teilen.“ Dieses Gefühl kennt Sajeda nur zu gut. Wenn sie durch die Straßen in ihrer neuen Nachbarschaft geht, rufen ihr Bewohner:innen oft verletzende Sprüche hinterher. Dann fühlt sie sich unsicher und schämt sich für ihr Aussehen und ihre Kleidung.

Sajeda fühlt sich nicht so frei wie in Syrien, wo sie sich mit jedem unterhalten und Witze machen konnte. Sie sagt, dass sie ihre erste Unterkunft, ein Flüchtlingscamp, lieber mochte. Dort lebte sie mit Syrer:innen zusammen, die das Gleiche durchmachten.

Während Sajeda weiterliest erfährt sie, dass Helga während des Kriegs einen amerikanischen Soldaten kennenlernte. Seine Familie schickte ihrer Familie CARE-Pakete. Nach dem Krieg heiratete sie diesen Mann und zog zu ihm in die USA. Im März feierten sie ihren 68. Hochzeitstag. Helga und Leo reisen gern und werden bald eine dreiwöchige Tour durch Lateinamerika machen. Zuhause spielt Helga Gitarre oder schreibt Briefe.

Portraits von Sajeda und Helga.

Sajeda freut sich, dass Helga ihre Leidenschaft für das Schreiben und die Musik teilt. Sie drückt ihre Gefühle gern beim Malen aus und liebt ebenso wie Helga die Musik. Sie textet selbst arabische Rap-Musik. Darin beschreibt sie, welche Träume sie hat und wie es sich anfühlt, als Mädchen allein durch die Straßen zu gehen oder als Flüchtling in einem Camp zu leben. Zu den Dingen, die sie an Syrien am meisten vermisst, gehören die Blumen im Garten ihrer Familie. Doch sie weiß nicht, ob sie die Blumen jemals wieder blühen sehen wird.

„Ich habe viele Träume, aber ich weiß nicht, ob sie in Erfüllung gehen werden. Ich denke ständig über meine Zukunft nach; darüber, ob ich in Jordanien bleibe oder nach Syrien zurückkehre.

„Mir bedeuten diese Worte sehr viel. Sie erinnern mich daran, dass ich mich selbst nicht in Syrien zurückließ. Ich bin immer noch ich und Helga macht mich wieder lebendig.“

CARE unterstützt Mädchen wie Sajeda, damit sie in der Fremde die Hoffnung nicht verlieren. Sie können helfen - mit Ihrer Spende!

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Hier können Sie Helgas Brief im Original lesen.

Auf unserem YouTube-Kanal können Sie sich ein Video zu den „Briefen der Hoffnung" anschauen.

Auch Gunter musste während des Zweiten Weltkriegs fliehen. Er schrieb einen Brief an den achtjährigen Zaher aus Syrien:
Hier kommen Sie zu ihrem Briefwechsel.