Aya, 26, Mutter von zwei Kindern, stammt aus Aleppo in Syrien. Sie floh 2011 in die Türkei, wo sie sich seit einiger Zeit in einem von der Europäischen Union finanzierten CARE-Projekt engagiert.
„Ich habe fünf Jahre lang darauf gewartet, meine Geschichte zu erzählen“, sagt Aya. „Hier ist sie."
„Wir waren 2011 zu Besuch bei Verwandten in Idlib als die Luftangriffe anfingen. Mein Bruder ging nach draußen, um zu sehen, was los war. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich ihn blutüberströmt. Ich rannte zu ihm und hielt ihn weinend im Arm. Es war wie in einem Albtraum. Er hatte ein Schrapnell im Gehirn. Das Rettungsteam konnte ihm nicht helfen. Er musste in ein besser ausgestattetes Krankenhaus in die Türkei gebracht werden. Wir waren nicht darauf vorbereitet, die Grenze zu überqueren. Wir wollten nur, dass er die nötige Behandlung bekam, und dann wollte ich nach Hause und zu meinem Mann in Aleppo zurückkehren.
Mein Bruder war 18 Jahre alt, ein Jahr älter als ich. Als er im Krankenhaus aufwachte, erinnerte er sich nicht an mich. Er hat geschrien und uns aus dem Zimmer geworfen. Ich versuchte, ihn an irgendetwas zu erinnern. Er war Rettungsschwimmer und hat mir das Schwimmen beigebracht, aber er erinnerte sich nicht. Er hat mich nicht einmal erkannt. Nach ein paar Tagen wusste er langsam, wer wir sind. Aber die Erinnerung an sein Leben vor dem Angriff kehrte nie zurück. Er starb drei Jahre später. Er war ins Koma gefallen und die Ärzte sagten uns, dass es keine Hoffnung mehr gäbe und wir den Stecker ziehen sollten.
Bist du es wirklich?
Wir hatten keine Zeit, etwas in die Türkei mitzunehmen. Vier Monate lang schliefen wir im Krankenhaus oder auf Parkbänken unter freiem Himmel. Eines Tages gab uns eine nette türkische Frau Kleidung und eine Unterkunft. Wir hatten nicht vor, in der Türkei zu bleiben, aber der Krieg in meiner Heimat schritt voran und unsere Heimatstadt war mittlerweile auch betroffen. Wir saßen fest.
Es war zu diesem Zeitpunkt, als ich erfuhr, dass ich schwanger war. Ich wollte nicht, dass mein Baby unter diesen Bedingungen zur Welt kommen muss. Mein Mann war noch in Syrien. Ich wusste nicht, ob er noch lebte. Ich habe jeden Tag online nach ihm gesucht. Über Facebook schrieb ich ihm, aber meine Nachrichten gingen nicht durch. Wegen des Krieges gab es weder Internet noch Telefonempfang. Ich weinte jeden Tag und weine immer noch, wenn ich an die Zeit denke, in der wir getrennt waren. Nach sieben Monaten habe ich ihn endlich gefunden. Er antworte auf Facebook und schrieb: ‚Bist du es wirklich? Geht es dir gut?' Ich brach in Tränen aus. Am Telefon erzählte ich ihm, dass ich in der Türkei und im siebten Monat schwanger bin.
Es dauerte ein Jahr, bis wir uns wiedersehen konnten. Viermal versuchte er, die Grenze zu überqueren. Beim letzten Versuch versteckte er sich unter Zuckersäcken auf der Ladefläche eines Lastwagens. Es funktionierte und endlich konnte er seine neugeborene Tochter Sila in die Arme nehmen. Er ließ sie nicht mehr los, bis wir unser neues Zuhause in der Türkei erreichten. Gemeinsam bauten wir uns hier ein Leben auf und bekamen unseren Sohn Qusay. Er ist mittlerweile fünf Jahre alt.
Die Arbeit als CARE Community Activator
Vor zwei Jahren erzählte mir ein Freund von CARE. Damals wollte ich unbedingt mit Kindern arbeiten. Als Mutter ist mir die Sicherheit von Kindern sehr wichtig. CARE bildetet mich zur Community Activator aus: Ich bin Teil einer Frauengruppe, in welcher wir über verschiedene Themen wie z.B. Frühehen diskutieren. Ich habe zwei Fälle von Frühehen in meiner Nachbarschaft verhindert, worauf ich sehr stolz bin. Ein Mädchen war 16 Jahre alt und sollte heiraten. Im Gespräch sagte sie mir, dass sie das nicht wolle. Daraufhin redete ich mit ihrer Mutter über die Gefahren für das Leben und die Gesundheit ihrer Tochter. Das Mädchen könnte sterben, wenn sie zu früh schwanger wird. Die Mutter sagte die Hochzeit ab. Das Mädchen umarmte mich zum Dank, und ich fühlte mich in diesem Moment so gut. Auch ich habe zu jung geheiratet, aber wusste vieles nicht, was ich nun durch CARE gelernt habe. Meine Erfahrungen helfen mir dabei, andere zu beraten. Meine Ehe ist glücklich, aber das muss nicht immer der Fall sein. Mit meiner Arbeit als Community Activator kann ich etwas in der Gesellschaft bewirken und zum Besseren verändern.
Die nächste Katastrophe
Dann traf uns das Erdbeben. Es war früh am Morgen. Zuerst dachte ich, es würde kurz wie immer sein. Wir sind hier an Erdbeben gewöhnt. Aber dieses Mal war es zu lang. Es hat stark gewackelt und es war so dunkel, weil es keinen Strom gab. Überall schrien Menschen. Unsere Wohnung lag im fünften Stock, und wir brauchten fast zehn Minuten, um hinauszukommen. Vieles war zerstört und Steine fielen herunter. Im Treppenhaus sah ich eine alte Frau, die unter einer Wand eingeklemmt war. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft hatte, um sie herauszuholen, aber ich habe es geschafft. Meine heute neunjährige Tochter Sila hatte anfangs zu viel Angst, um nach draußen zu gehen. Sie stand unter Schock und war traumatisiert.
In den ersten vier Tagen nach den Erdbeben schliefen wir in einer Moschee auf dem Boden. Wir bekamen Essen und Decken, aber es waren zu viele Leute und oft blieb nichts für uns übrig. Wir mussten dann wieder auf einer Parkbank unter freiem Himmel schlafen, genau wie bei unserer Flucht aus Syrien. Als wir drei Wochen später in unsere Wohnung zurückkehrten, war fast alles gestohlen. Jedes elektronische Gerät, vom Fernseher bis zum Kühlschrank, war weg.
Ich habe meine Heimat in Syrien verloren und dann auch noch meine Heimat in der Türkei. Das war verheerend für uns. Aber ich bin dankbar. Wir haben überlebt. Wir sind zusammen. Und mit CARE kann ich etwas Sinnvolles tun und mit dem, was ich gelernt und erlebt habe, eine bessere Zukunft mitgestalten.“
Bitte unterstützen Sie die Hilfe von CARE in den Erdbebengebieten mit Ihrer Spende!