Ich weiß nicht genau, was ich erwartet hatte, bevor ich das Azraq Camp in Jordanien besucht habe. Vielleicht ein kleines Chaos an provisorischen Unterkünften. Aber das Azraq Camp ist weder klein noch provisorisch. Aus dem Fenster des Autos auf dem Weg zum Gemeinschaftszentrum von CARE sieht man ein Meer aus ordentlich nebeneinander aufgereihten weißen Wellblech-Hütten. Eine Frau holt Wasser mit einem Kanister von einer Wasserstation. Kinder sitzen auf der Straße und schauen unserem Auto hinterher, welches eine große Staubwolke aufwirbelt. Die Wege bestehen hier aus trockener Erde und Steinen.
Das Erste, was mir im Gemeinschaftszentrum von CARE auffällt, ist das riesige Poster mit einem Stundenplan: montags von 9 bis 10 Uhr Kunst für 12- bis 17-Jährige im Technologielabor, Buchclub in der Bibliothek, Morgengymnastik für 0- bis 5-Jährige in der Kindertagesstätte und ein Schreibkurs für 6- bis 11-Jährige. Das ist nicht mehr provisorisch, sondern ein organisierter Plan und Routine, die den Alltag hier im Camp bestimmt. Das Camp wurde Ende April 2014 eröffnet. Viele der Menschen leben schon von Beginn an hier. So auch Lateefa, 63, aus Syrien, die ich ganz konzentriert an einer Nähmaschine arbeitend treffe. „Jetzt leben wir seit 8 Jahren hier und wir sind sehr müde“, so Lateefa. Sie lebt hier mit ihren zwei Söhnen und 14 Enkelkindern. Stolz zeigt sie mir das kleine Hemd, das sie für einen ihrer Enkel näht. Sie erzählt mir, dass sie allein mit ihren Kindern von Syrien nach Jordanien geflohen ist und schon sehr lange alles allein macht. Umso mehr freut sie sich an diesem Nähkurs von CARE teilzunehmen, da sie hier Kontakt zu anderen Näherinnen hat und weil sie hier etwas zu tun hat und auch mal ihre Unterkunft verlässt.
Lateefa ist eine der vielen widerstandsfähigen Syrerinnen und Jordanierinnen, die ich in den vier Tagen meines Einsatzes in Jordanien kennengelernt habe.
Es ist kalt als ich das Hotel morgens verlasse, um nach Zarqa zu fahren. Unterwegs habe ich einen Blick auf Amman. Alle Gebäude erstrahlen im gleichen Weiß- oder Beige-Ton. Grün ist im Wüstenstaat Jordanien selten zu sehen. Im Gemeinschaftszentrum von CARE in Zarqa werde ich mit einem heißen Kaffee begrüßt, an dem ich meine Hände aufwärme. Eine Straßenkatze sitzt auf meinem Schoß und wärmt diesen. Es war auch ein kalter Tag als Marwa, 15, mit ihrer Familie aus Syrien nach Jordanien geflohen ist. Ich spreche mit Marwa über ihren Schulalltag, ihre Familie erhält Bargeldhilfen von CARE, die ihr den Schulbesuch ermöglichen. „Ich möchte Architektin werden, um meine Heimat und Syrien wieder aufzubauen“, so die 15-Jährige. Ihre Aussage macht mich sprachlos. Ich muss das Interview kurz pausieren. Was antworte ich auf so eine Aussage? Ich konnte kaum in Worte fassen, wie bewundernswert ich dieses Mädchen finde. Draußen im Hof nehme ich noch ein Video von Marwa auf. Die Straßenkatze läuft immer wieder ins Bild. Mit der Katze im Arm bekomme ich dann einhändig doch noch ein Video und verabschiede Marwa. Ich wünsche ihr noch, dass sie ihren Traum erfüllen kann und als Architektin ihr Zuhause wieder aufbauen kann.
Einen bleibenden Eindruck hat auch Mohammad, 9, bei mir hinterlassen. Vor drei Jahren ist er mit Lymphknotenkrebs diagnostiziert worden und konnte zwei Jahre lang nicht zur Schule gehen. Jetzt geht es ihm gut genug, dass er die vierte Klasse besuchen kann. Ihn treffe ich im Gemeinschaftszentrum von CARE in Amman. Da die Sonne für ein paar Stunden scheint, sitzen wir im Stuhlkreis draußen im Hof. Er erzählt mir ganz begeistert, dass er Astronaut werden möchte, um Unentdecktes zu erforschen. Sein Gesicht leuchtet auf, wenn er über das Weltall spricht. „Mein Lieblingsplanet ist die Erde. Das ist der einzige Planet mit Leben und es gibt noch so viel zu entdecken. Es gibt ganze Tierarten, die noch unbekannt sind.“ Er erklärt mir fünf Minuten lang, warum es nicht möglich ist, derzeit auf dem Mars zu leben. Außer dass der Sauerstoffgehalt nicht für den Menschen geeignet ist, verstehe ich aber nichts. Das ist ein hochkompliziertes Thema. Mohammad ist ein sehr aufgeweckter, intelligenter und überaus neugieriger Junge. Als ich seinen Vater frage, was er sich für seine eigene Zukunft wünscht, wird er ganz emotional. „Er hat große Träume, ich mache mir Sorgen, dass ich sie ihm nicht erfüllen kann. Ich fühle mich hilflos. Für mich selbst wünsche ich mir nichts im Leben“, so Mohammads Vater und meint dabei die finanzielle Situation, in der sich die Familie befindet. Die Medikamente für Mohammed sind sehr teuer und sein Vater arbeitet als freiberuflicher Handwerker und hat manchmal wochenlang keine Aufträge. Da bekomme ich einen richtigen Kloß im Hals und ich wünsche mir so sehr, dass der kleine Mohammad irgendwann den Mars besuchen kann.
Der Tag im Gemeinschaftszentrum von CARE in Amman ist sehr bewegend. Bei den Interviews mit den Müttern von Bayan, 12, und Bara’a, 12, wird es sehr emotional. Bayans Mutter erzählt mir, dass ihre Schwägerin das Haus verkauft hat, in dem sie mit ihren drei Töchtern wohnte. Sie stand mit all ihren Möbeln auf der Straße. Bara’as Mutter weint, als sie erzählt, dass ihr 11-jähriger Sohn die Schule abbrechen musste, um Geld für die Familie zu verdienen. Er hat Kaffee auf der Straße an Autos verteilt, die z.B. gerade an einer roten Ampel gewartet haben. „Ein Auto hat ihn hierbei angefahren. Ich fühle mich so schuldig dafür,“ so Bara’as Mutter. Bara’a erzählt mir unter Tränen, dass sie Dermatologin werden möchte. Sie möchte anderen Kindern mit Hautproblemen helfen, da sie selbst sehr unter ihrer Schuppenflechte leidet. Diese Schicksale zu hören ist sehr schwierig. Umso beeindruckender sind die Antworten dieser Kinder, was sie später werden möchten. Trotz ihrer schwierigen Verhältnisse haben sie Träume und Ziele und ich wünsche mir sehr, dass sie alle diese erfüllen können.
Alle Familien, Frauen und Kinder, die ich in den vier Tagen in Jordanien treffen durfte, haben mir eines beigebracht: Egal wie die äußeren Umstände sind, solange man die Kraft hat weiterzumachen und man Träume, Wünsche und Hoffnungen nicht aufgibt, kann viel Gutes erreicht werden.
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