Victoria steht in einem Raum der Notunterkunft.

Victoria – Herz und Seele einer Notunterkunft in der Ukraine

Victoria Fiohnostava, 32, kommt aus Butscha bei Kyiv. Anfang März floh sie mit ihrer Schwester und ihrem Neffen nach Lviv, in den Westen der Ukraine. Dort arbeitet sie nun als Leiterin einer Notunterkunft bei Tvoya Opora, einer CARE-Partnerorganisation. Aktuell leben 105 Bewohner:innen in der Unterkunft, seit der Eskalation des Krieges im Februar sind jedoch mehr als 2.000 Menschen hier durchgekommen, die entweder in die Nachbarländer weitergereist oder nach Hause zurückgekehrt sind. Ein Drittel von ihnen sind Kinder. Die Notunterkunft nimmt Familien, allein reisende Frauen, Kinder, Männer und Haustiere auf. 

Zum Welttag der humanitären Hilfe beschreibt Victoria ihren neuen Arbeitsalltag in Lviv:

7:00 Uhr
Meine Augen bleiben geschlossen, als mein Wecker klingelt. Ich hatte einen Traum: Es war wieder Donnerstag, der 24. Februar. Draußen hatte es ein Grad Celsius und der Himmel war bewölkt. Ich war in Butscha und wollte gerade aufstehen, um zu meinem Maniküre-Termin zu gehen. Es war ein ganz normaler Tag. Als ich die Augen aufmache, ist es wieder August. Der Krieg und die letzten sechs Monate sind Realität. Während ich meinen grünen Tee aufbrühe, schaue ich mir die Nachrichten an: Wie viele Menschen sind letzte Nacht gestorben? Wie viele Menschen wurden von einer Rakete getroffen, als sie vom Einkaufen für ihre Familien heimkehren wollten?
 
8.15 Uhr
Die Notunterkunft in Lviv ist 15 Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt. Meine neue Welt. Meine Familie. Wenn ich mit meinen Gedanken allein bin, muss ich mich mit etwas Gutem ablenken. Ich will nicht an die Bilder von meinem Haus und meinen Nachbar:innen denken, die tot auf der Straße liegen. Heute denke ich ans Reisen. Ich wollte schon immer mal nach Rio de Janeiro fliegen. Es ist schon irgendwie komisch. Ich wollte immer im Ausland leben, aber jetzt will ich auf keinen Fall weggehen. Es herrscht Krieg und ich kann etwas tun. Als ich in die Straße einbiege, die zur Notunterkunft führt, sehe ich schon von weitem, dass ein weiteres Auto direkt davor geparkt ist. Die Warnschilder und die Palette, die wir letzte Woche demonstrativ in den Weg gestellt haben, sollten das verhindern. Sobald ich die Klinke zum Eingang der Notunterkunft herunterdrücke, verschwinden alle Gedanken, Ängste, Wünsche und Hoffnungen in meinem Hinterkopf; von nun an konzentriere ich mich ganz auf meine Arbeit. Ich atme tief durch und betrete meine neue Welt.

Victoria sortiert die Sachspenden.
Victoria sortiert Hilfsgüter in der Notunterkunft in Lviv.

8:35 Uhr
Als Erstes begrüße ich den Empfang und betrete mein Büro. Inzwischen habe ich einen Umzugskarton gegen einen richtigen Schreibtisch ausgetauscht. Der Laptop ist noch nicht einmal richtig hochgefahren, als Vanya* hereinkommt und mir mitteilt, dass sie einen neuen Standort für einen Luftschutzraum gefunden hat. Wir versuchen immer noch, einen sicheren Platz für unsere Bewohner:innen zu finden. Wir vereinbaren einen Besichtigungstermin für später am Tag. Zuerst habe ich ein Zoom-Meeting, in dem wir uns alle über unsere Projekte informieren. Dann schaue ich mir einige Rechnungen an, suche online nach kostenlosem Material wie Shampoo, Lebensmittel, Bettbezüge etc. und werfe einen Blick auf die Liste der Anträge auf längeren Aufenthalt. Heute spreche ich mit einer Familie, um herauszufinden, ob sie bereit ist, sich nach Schulen und Arbeitsmöglichkeiten umzusehen.

11:30 Uhr
Motia, eine Spitzhündin, läuft im Kreis um mich herum, während ich die Familie Sekhiyovyeh begrüße und frage, ob es Tochter Sofia, 10, besser geht, da sie gestern stark gehustet hat. Im Zimmer nebenan frage ich, ob das Waschbecken wieder funktioniert. Zwei Türen weiter auf dem Flur repariert jemand ein Schloss. Einer unserer Mitarbeitenden kommt den Flur entlang gerannt und bittet mich, im Spielzimmer zu helfen. Als wir an der Galerie vorbeikommen, bleibe ich kurz stehen. Die Wand ist mit Kinderbildern bedeckt. Jedes Mal, wenn ich hier vorbeigehe, nehme ich mir ein paar Sekunden Zeit, um die Kunst der Kinder und die damit verbundenen Geschichte zu würdigen. Eines Tages – nach dem Krieg – würde ich gerne eine Kunstgalerie eröffnen und die Presse einladen, um die Geschichten all dieser Kinder zu erzählen. Wenn ich heute das Bild eines Jeeps im hohen Gras betrachte, denke ich an den Jungen, der es gezeichnet hat und der sah, wie sein Vater erschossen wurde. Es ist schwer für mich, diese Geschichten in meinem Herzen zu tragen, aber ich muss stark sein. Ich will nicht, dass mich jemand weinen sieht. Ich atme tief durch und betrete das Spielzimmer. Ich muss ein strenges Gesicht wahren und mich sehr bemühen, nicht zu lachen. Mir wurde gesagt, dass die drei Kinder, die vor mir auf dem Boden sitzen, Stofftiere aus dem Fenster auf die Leute auf der Straße geworfen haben. Ich sage ihnen, dass ich sie rauswerfen muss, wenn sie sich noch einmal schlecht benehmen. Das würde ich natürlich nie tun, aber ihre geschockten Gesichter sollten dafür ausreichen, dass die Spielsachen in Zukunft im Zimmer bleiben, wo sie hingehören. Auch die Spielsachen hier haben eine Geschichte zu erzählen, sie stammen von meinen Nichten und Neffen, wurden gespendet, oder von Menschen, die einst hier waren, zurückgelassen.

Victoria zeigt dem CARE-Team die Bilder, die die Kinder in der Notunterkunft gemalt haben.
Eine Wand voll mit Kinderbildern. „Ich würde gerne eine Kunstgalerie eröffnen, um die Geschichten all dieser Kinder zu erzählen", erklärt Victoria.

14:00 Uhr
Auf dem Weg den Luftschutzraum zu besichtigen, begrüße ich Viktor, 72, und frage ihn, wie es seiner Frau geht, die im Krankenhaus liegt. An der Tür treffe ich Sasha, 15, und frage ihn, wie sein neuestes Gemälde aussieht und dass ich ihn später besuchen werde, um es mir anzusehen. Der Luftschutzkeller ist nur eine Minute zu Fuß entfernt, was gut ist. Wir haben zwar einen eigenen Keller, aber der ist nicht für so viele Leute geeignet. Als ich die Treppe hinuntergehe, weiß ich bereits, dass dieser Unterschlupf für uns nicht ausreichen wird. Ich schalte die Taschenlampe auf meinem Handy ein, denn hier gibt es kein Licht. Von der Decke hängen Kabel herab, und ich kann nicht aufrecht stehen, weil es zu niedrig ist. Überall liegt Dreck und Schutt, eine Ratte rennt vor uns weg, ein Rohr verläuft durch den kleinen Raum und als ich es berühre, ist es heiß. Wenn eine Rakete in dieses Gebäude einschlagen würde, käme sehr schnell brennend heißes Wasser aus den Rohren. Wir werden weitersuchen müssen.

18:00 Uhr
Ich sitze in meinem Büro und schreibe an einem weiteren Antrag zur Finanzierung der Unterkunft. Bis Ende August kommen wir klar, doch dann brauchen wir mehr finanzielle Mittel. Sonst muss die Unterkunft schließen. Über diese Option kann ich nicht nachdenken. Ich muss etwas oder jemanden finden. Ich werde meine neue Familie nicht auf die Straße setzen. Nina, 74, klopft an der Tür und kommt mit einem großen Blumenstrauß in der Hand herein. Sie sagt mir, dass sie so dankbar für das Leben und die Unterstützung ist, die sie hier hat. Wir umarmen uns und ich sage ihr, dass diese Blumen sehr teuer aussehen und sie stattdessen etwas für ihre Enkelkinder kaufen sollte. Nina will sie mir als Wertschätzung für meine Arbeit hier schenken. Als sie geht, halte ich die Blumen fest an mich gedrückt und versuche, nicht zu weinen. Ich halte sie immer noch in der Hand, als wieder jemand an meine Tür klopft. Es sind die spielzeugwerfenden Kinder, sie haben einen Kuchen aus Keksen für mich gebacken und entschuldigen sich für ihr kleines Abenteuer. Diesmal kann ich mir das Lachen nicht verkneifen und nehme den Kuchen an.

Victoria im Gespräch mit einer Bewohnerin der Notunterkunft in Lwiw.
Victoria fühlt sich für die Menschen in der Notunterkunft verantwortlich und führt jeden Tag viele Gespräche.

21:30 Uhr
Ich stehe in einer der Küchen und schaue im Schrank nach, ob wir noch genug Babynahrung haben. Natalia, die sich gerade eine Instantsuppe kocht, frage ich, wie es ihrem Sohn geht und ob er immer noch seinen Online-Unterricht auf dem kleinen Telefon macht. Wir brauchen mehr Laptops und Tablets, damit die Kinder hier ihre Online-Schule besuchen können. Ich gehe in eine der Damentoiletten und überprüfe, ob wir genug Seife und Shampoo haben, als die Sirene auf meinem Handy ertönt. Luftalarm. Ich seufze und gehe in den Keller hinunter. Die meisten unserer Bewohner:innen ignorieren den Alarm mittlerweile. Zu oft geht er los. Wenn man jedes Mal reagieren würde, könnte man keine normale Nachtruhe mehr haben. Eine halbe Stunde später gibt mein Telefon Entwarnung. Ich muss heute nicht im Keller schlafen und kann nach Hause gehen. Wir haben Glück. Aber jemand da draußen hat nicht so viel Glück. Es gibt Regionen im Osten, in denen der Alarm 125 Tage lang ununterbrochen lief. Es gibt Menschen, die seit Wochen und Monaten in Luftschutzkellern leben. Trotzdem haben wir alle Glück, hier zu sein und zu leben.

22:45 Uhr
Ich verlasse die Unterkunft so leise wie möglich. Die Ausgangssperre beginnt in 15 Minuten, also muss ich mich beeilen, nach Hause zu kommen. Auf dem Rückweg denke ich an einen Urlaub, in dem ich jeden Tag 20 km laufe und alles erkunden kann. Ich trinke noch einen grünen Tee, bevor ich ins Bett gehe, und vielleicht wache ich dieses Mal wieder am 24. Februar auf und es ist ein gewöhnlicher Tag, an dem ich einfach zu meinem Maniküre-Termin gehe und mein Leben ganz normal weiterlebe.

Victoria sitzt CARE-Helferin Sarah Easter gegenüber und spricht mit ihr.
Victoria berichtet CARE-Helferin Sarah von ihrem Arbeitsalltag in Lviv: „Ich muss stark sein."

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*Einige Namen im Text sind zum Schutz der Personen geändert worden.