Mehr als zehn Prozent der Mitarbeitenden im Team von CARE Ukraine haben ihr Zuhause verloren oder waren gezwungen, dieses aufgrund des Krieges zu verlassen. Mariupol, Sloviansk, Shchastia, Luhansk, Horlivka, Kherson - diese Städte waren ihre Heimat. Während ihrer Arbeit sind sie hohen Risiken ausgesetzt, die sie aber eingehen, um anderen zu helfen.
Allein im Jahr 2024 wurden drei humanitäre Helfer:innen in der Ukraine getötet und 21 verletzt. Laut der Internationalen NGO-Sicherheitsorganisation (INSO) gab es 131 gezielte Angriffe auf humanitäre Helfer:innen, sei es durch Beschuss, Geiselnahme oder die gezielte Zerstörung von Hilfsgütern.
Anlässlich des Welttages der humanitären Hilfe teilen CARE-Mitarbeitende ihre persönlichen Erfahrungen und berichten, wie sie mit den enormen Belastungen umgehen und es dennoch fertig bringen, sich unermüdlich für das Wohl anderer einzusetzen.
Artem: „Ich konnte nicht untätig bleiben“
„Wenn man fast alles verliert, bis auf das eigene Leben, wird einem klar, dass das menschliche Leben der größte Schatz ist“, sagt Artem, Berater für Unterkünfte, Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene (WASH) bei CARE Ukraine. Sein ganzes Leben lang arbeitete er in Mariupol, war Ingenieur bei einem der größten Metallwerke in der Ukraine. Artem blieb nach Ausbruch der Gewalt noch lange Zeit in Mariupol, bis er erkannte, dass die Situation kritischer wurde. Schließlich verließ er die Stadt und zog nach Dnipro. „In Mariupol habe ich so viel Leid gesehen, dass ich nicht untätig bleiben konnte. Deshalb begann ich, mich in Dnipro als Freiwilliger zu engagieren. Das gab mir ein tieferes Verständnis für humanitäre Arbeit, und ich beschloss, diese auf professioneller Ebene weiterzuverfolgen“, erinnert sich Artem.
Valeriia: „Die Erfolge der humanitären Arbeit haben mich inspiriert“
„In dunklen Zeiten zeigen sich die wahren Held:innen“, sagt Valeriia über diejenigen, die ihr und ihrer Familie halfen, als sie aus dem Gebiet Luhansk fliehen mussten. Heute arbeitet Valeriia bei CARE und ist überzeugt: Das Beste, was sie für ihr Land tun kann, ist zu bleiben und zu helfen. „Ich war beeindruckt von den Erfolgen des humanitären Sektors, als ich die Arbeit zum ersten Mal 2016 in den Städten Shchastia und Sloviansk sah. Zerstörte Teile der Stadt wurden durch humanitäre Arbeit wiederaufgebaut. Man konnte den Fortschritt sehen und spüren. Mir wurde klar, dass diese Hilfe nicht umsonst war. Es ist schwer für Menschen, neu anzufangen, wenn ihnen nichts geblieben ist. Aber sie begannen, Blumen zu pflanzen und Gebäude und Brücken aus der Asche wieder aufzubauen. Das war nicht nur inspirierend, sondern auch faszinierend.“
„Der Einmarsch 2014 rund um die Region Luhansk kam für mich und alle Leute aus meinem Umfeld völlig überraschend. Wir haben nicht damit gerechnet und nicht verstanden, was passiert“, erklärt Valeriia. „Die ersten Monate war ich trotz der Angriffe pünktlich um 8 Uhr bei der Arbeit und habe um 18 Uhr Feierabend gemacht. Wie immer. Ich dachte nicht einmal daran, dass es gefährlich sein könnte.“
Valeriia hatte großes Glück. Sie geriet nicht unter Beschuss und konnte gemeinsam mit ihrem Mann den letzten Zug aus Luhansk raus nach Schastya nehmen und damit aus der Stadt fliehen. „Es waren Tausende von Menschen am Bahnhof und ich hatte große Angst, doch schon am nächsten Tag fuhr ich zusammen mit meiner Nachbarin wieder nach Luhansk zurück. Mit dem Auto fuhren wir durch Wälder, um Autobahnen zu umgehen. Ich war auf dem Weg zur Arbeit – wie jeden Morgen. Ein Psychologe hat mir später erklärt, dass mein Gehirn sämtliche Informationen über die Gefahr blockierte.“
Wegen der Besetzung Luhansks ist das Unternehmen, in dem Valeriia arbeitete, nach Sievierodonetsk umgezogen. Auch Valeriia und ihre Familie haben dort vorübergehend eine neue Heimat gefunden. Am Morgen des 24. Februar 2022 wurde sie um 5 Uhr von einem Anruf ihres Chefs geweckt. „Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu. Wieder Krieg. Ich erinnere mich gut daran, wie mein Sohn ins Telefon weinte: ‚Mama, sie schießen, sie schießen‘. Die Explosionen waren sehr stark und mein Sohn war zu dem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt. Nach sechs Tagen habe ich dann den Entschluss gefasst zu fliehen. Ich wollte nur noch weg. Mindestens 1000 Kilometer, weil ich nicht mehr an die 100-Kilometer Grenze glaube. Ich wollte nur an einen ruhigen und sicheren Ort. Wir haben all unsere wichtigen Sachen zusammengepackt und sind losgefahren. Nach sieben Tagen kamen wir dann in Lviv an“, erzählt Valeriia.
Serhiy: „Ich möchte meine Fähigkeiten einbringen“
Serhiy, ein ehemaliger Bankmitarbeiter, verließ 2014 die besetzte Stadt Horlivka. „Ich sah mit eigenen Augen das Leid der Menschen, die ohne Hilfe und Unterstützung waren. Viele meiner Freunde waren in derselben Lage und mussten ihre Heimatstädte verlassen, da ihr Leben oder ihre Lebensgrundlage bedroht war. Als ich hörte, dass internationale Hilfsorganisationen in der Ukraine anfingen zu helfen, wollte ich meine wirtschaftlichen Fähigkeiten einbringen. So begann ich als Spezialist für Ernährungssicherheit und Existenzsicherung bei einer humanitären Organisation“, erzählt Serhiy. Heute ist er Koordinator für Bargeld- und Finanzhilfen (CASH) bei CARE.
Serhiy wollte seine Heimat nie für immer verlassen. „Als ich ging, dachte ich, die Entscheidung sei nur vorübergehend. Doch die Jahre zogen dahin und mittlerweile ist meine Flucht zehn Jahre her. Mit den Jahren wurde aus dem vorübergehenden Umzug ein dauerhafter. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Situation zu akzeptieren.“ Als die Heimatstadt von Serhiy, Horlivka, im Oktober 2014 besetzt wurde, zog er nach Dnipro. Hier arbeitete er zunächst in einer Bank, bis er im Oktober 2015 in Sloviansk eine Stelle im humanitären Sektor angenommen hat. „Ich habe in Sloviansk gearbeitet und in Kramatorsk gelebt und dachte, endlich eine neue Heimat gefunden zu haben. Diese Heimat musste ich 2022 wieder verlassen. Das hat Spuren in mir hinterlassen. Ich habe das Gefühl, meine Heimat für immer verloren zu haben. Heimat ist jetzt, wo ich gerade bin“, erzählt Serhiy.
Vlad: „Ich kann einen Beitrag leisten“
Vlads Entscheidung, sich zu engagieren, war anfänglich spontan. Als ehemaliger Fluglotse wusste er zunächst nicht viel über den humanitären Sektor. Sein Wunsch, zu helfen, führte schließlich dazu, dass er bei der Verteilung von Hilfspaketen unterstützte. Dafür reiste er von Boryspil nach Kyiv und später mit dem CARE-Team an die Frontlinie nach Mykolaiv. Erst als Vlad begann, aktiv zu arbeiten und sich mit den Herausforderungen und Fachbegriffen des Sektors vertraut zu machen, fand er seinen Platz. „Ich traf auf viele motivierte Menschen und erkannte, dass ich wirklich einen Beitrag leisten und in Krisenzeiten helfen kann.“
Yuliia: „Ich muss hierbleiben und helfen"
Yuliias Weg in die humanitäre Arbeit verlief völlig anders. Als Inhaberin eines erfolgreichen Familienunternehmens lebte sie vor dem Krieg in verschiedenen Städten der Ukraine und baute dort ihr Geschäft auf. Ihr Netzwerk war hierdurch sehr groß. Im Februar 2022 wurde ihre Wohnung in Lviv zum Anlaufpunkt für Hunderte von Menschen, die vor dem Krieg aus Odesa, Kyiv, Dnipro, Mariupol und anderen Städten flohen. „Der Ansturm der Menschen war so groß und anhaltend, dass ich erst im April, als Lviv unter starken Beschuss geriet, plötzlich innehielt und erkannte, dass ich insbesondere zum Schutz meines Sohnes die Stadt verlassen musste“, berichtet Yuliia.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich in der Situation einer Geflüchteten wiederfinden würde,“ erzählt Yuliia über ihre ersten Tage in Irland. Als ich am Tisch saß und auf unsere Unterbringung wartete, fühlte ich mich zum ersten Mal völlig abhängig von anderen. Ich war erschöpft, mein Kind schlief auf dem Tisch und ich wusste nicht, wie lange wir noch warten mussten, da so viele Menschen dort waren.“ Die Hilflosigkeit und Verzweiflung ließen Yuliia den Wunsch verspüren, nach Hause zurückzukehren. Doch bald erkannte sie, dass um sie herum Menschen waren, die noch weniger hatten. „Zu der Zeit hatte ich nur grundlegende Englischkenntnisse. Ich konnte mich aber mit Muttersprachler:innen unterhalten und Dokumente ausfüllen. Viele andere konnten sich überhaupt nicht verständigen. Neben mit saß eine Mutter mit ihren drei Kindern. Eines davon hatte Fieber und hätte eigentlich ins Krankenhaus gemusst, aber es war niemand da, der sich kümmern konnte. Also half ich dabei, Dokumente auszufüllen und erkannte schließlich, dass ich hierbleiben muss, um unseren Leuten zu helfen und Teil dieser Gemeinschaft zu werden.
Nach der Freiwilligenarbeit engagierte sich Yuliia in einer humanitären Organisation in Irland. Doch sie konnte nur für eine gewisse Zeit in Irland bleiben. Nach sechs Monaten kehrte sie in die Ukraine zurück und arbeitet derzeit in Lviv im CARE-Team als HR-Koordinatorin. „Ich habe geweint, als ich gelesen habe, welche Mission CARE hat. Ich konnte selbst beobachten, wie Frauen aufblühen, wenn man sie dabei unterstützt werden, ein wirtschaftlich unabhängiges Leben zu führen und sich selbstbestimmt um ihre Gesundheit zu kümmern.“ Für Yulia war deshalb klar: Sie möchte Teil des CARE-Teams werden.
Kateryna: „Es ist Zeit zu gehen"
Auch Kateryna fiel die Entscheidung, ihre Heimat Sloviansk zu verlassen, nicht leicht. Sie musste mit ansehen, wie Granaten über ihre Heimatstadt flogen und explodierten. „Ich hatte große Angst, aber ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass der Krieg so lange dauern würde“, erzählt sie. Die Entscheidung zu fliehen hat die Mutter am 9. März 2022 getroffen – dem achten Geburtstag ihres Sohnes. „Es hatten fast alle Geschäfte geschlossen. Wo sollte ich ein Geschenk für ihn herbekommen oder auch nur die Zutaten für einen Geburtstagskuchen? Ich bin dann zu einem kleinen Tante-Emma-Laden gerannt. Das war das einzige Geschäft, das überhaupt geöffnet hatte. Ich habe das einzige Spielzeug gekauft, dass es noch gab. Einen kleinen Kuschel-Batman für 100 Griwna (circa 3 Euro). Das war unser einziges Geschenk. Zusätzlich habe ich noch ein paar Waffeln gekauft, die wir mit selbstgemachter Marmelade bestrichen haben, und einen Kuchen gab es auch.
Als mein Sohn aufwachte und das kleine Geschenk und den Kuchen sah, war er überglücklich. Wir setzten uns an den Tisch und wollten gerade zusammen Tee trinken. Dann war Luftalarm und wir mussten den Rest des Tages in einem kalten, feuchten Keller verbringen. Da wusste ich: Es ist Zeit zu gehen.“
„Keine Zeit für Trauer"
Die Arbeit im humanitären Sektor kann sehr anstrengend sein und fordert viel Motivation. In der Ukraine wird die Arbeit durch Luftangriffe und den ständig präsenten Krieg zusätzlich erschwert. Doch was motiviert die Mitarbeitenden weiterzumachen?
„Wenn ich völlig erschöpft bin, weil ich den ganzen Tag vor dem Computer sitze und den Bezug zur Realität verliere, versuche ich an Orte zu gehen, wo wir den Menschen helfen, oder ich spreche mit Partnerorganisationen, die mir von Erfolgsgeschichten berichten. Das hilft mir“, erzählt Kateryna.
Valeriia erklärt: „Ich habe das Gefühl das Richtige zu tun. Ich denke, dass ich unserer Gesellschaft etwas zurückgeben kann, die so stark unter dem Krieg leidet. Dieses Gefühl treibt mich an.“
Yuliia hilft es „keine Zeit für Trauer“ zu haben. Obwohl sie nicht viele Projektbesuche macht und die meiste Zeit Interviews gibt oder am PC arbeitet, motiviert sie, dass die Stimme von CARE gehört wird. Ob in sozialen Medien oder in der Presse. Außerdem möchte sie mit ihrer Arbeit ein positives Vorbild für ihre Kinder sein.
Jede:r CARE-Mitarbeitende hat eigene Träume. Für viele ist es die Rückkehr in ihre Heimat, Sicherheit für die eigene Kinder oder einfach nur ein unbeschwertes Wochenende in der Natur. Die meisten von ihnen wünschen sich, trotz all der Liebe zu ihrer Arbeit, dass diese bald nicht mehr benötigt wird. „Wenn unsere Arbeit eines Tages in der Ukraine überflüssig wird,dann ist in unserem Land endlich wieder Frieden“, erklärt Vlad. Artem fügt hinzu: „Wenn der Krieg in der Ukraine vorbei ist, kann endlich eine neue Geschichte beginnen.“
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