„Das wichtigste ist, nicht in Panik zu geraten“, sagt Maria, 31, die als freiwillige Fahrerin für eine ukrainische Studierendenorganisation arbeitet. Zusammen mit 14 anderen Fahrer:innen liefert sie humanitäre Hilfsgüter wie Lebensmittel, sauberes Trinkwasser, Medikamente, Hygieneartikel und andere Dinge des täglichen Bedarfs aus Polen in die von den Kämpfen stark betroffenen Gebiete der Ukraine.
„Wir planen unsere Fahrten so, dass wir nie ein leeres Auto haben“, erklärt Bohdan, 25, Jurastudent in Lviv. Auf ihrem Weg in die umkämpften Gebiete liefern sie dringend benötigte Hilfsgüter und auf ihrem Rückweg evakuieren sie Familien, Haustiere und transportieren wichtige Dokumente, die die Menschen zurückgelassen haben, als sie in Eile fliehen mussten. Als Frau darf Maria die Grenze nach Polen überqueren, wo sie humanitäre Hilfsgüter einsammelt und nach Lviv bringt. Bohdan nimmt die Hilfsgüter entgegen und bringt sie zu den Menschen, die von der Versorgung völlig abgeschnitten sind.
Als der Krieg in der Ukraine vor 6 Monaten, am 24. Februar eskalierte, brauchte die von Studierenden geleitete Initiative drei Tage, um sich zu organisieren. Am 27. Februar saßen die ersten Fahrer:innen bereits am Steuer und fuhren nach Kyiv, um zwei Familien zu evakuieren. Jetzt fahren sie in Städte in Charkiv, Kherson, Donetsk, Dnipro, Mykolaiv und Odesa - Gebiete, die stark vom Krieg betroffen und sehr gefährlich sind.
„Wir lernen aus jeder Reise. Zuerst hatten wir nicht einmal einen Ersatzreifen dabei. Wir hatten keine Erfahrungen, aber jetzt sind wir besser vorbereitet“, erklärt Bohdan. Am Anfang trug Bohdan auch keine kugelsichere Weste, weil sie ihm zu schwer und unbequem war. Während sie normalerweise Jura und Geschichte studieren, stundenlang in Bibliotheken sitzen und sich Gedanken über die nächste Prüfung machen, planen sie jetzt ihre Fahrten zu den gefährlichsten Orten. „Wir haben jetzt sehr gründliche und ausführliche Listen und Pläne. Wir wollen so viel Zeit wie möglich sparen und so präzise wie möglich arbeiten“, erklärt Maria. Ein falscher Schritt und die Fahrer:innen sind in Lebensgefahr. Auf einer Fahrt von Lviv nach Kyiv wurde ein Auto der Studierenden völlig zerstört. Um einen Umweg zu vermeiden, hatten sie eine gefährlichere Route gewählt. Die Fahrer:innen überlebten nur knapp. Deshalb haben sie jetzt einen sehr strengen und präzisen Plan. „Jede Stunde zählt. Ich kam um 8:00 Uhr morgens in Mykolaiv an und fuhr eine halbe Stunde später weiter. Um 9:30 Uhr explodierte eine Bombe genau an dem Ort, an dem ich zuvor gewesen bin“, erinnert sich Bohdan.
Eine große Herausforderung für die Studierenden ist das Benzin. „Am Anfang haben wir unser eigenes Geld verwendet. Jetzt erhalten wir Unterstützung. Aber die Preise für Benzin haben sich in den letzten Monaten verdoppelt“, erklärt Maria. Eine Tankfüllung von 66 Liter für ein kleines Fahrzeug kostete etwa 38 bis 52 Euro, jetzt sind es rund 105 Euro. „Wir müssen ein wenig mehr Benzin für mögliche Umwege einplanen, wenn eine Straße blockiert ist, aktiv gekämpft wird oder die Straße zerstört ist. Das dauert länger und verbraucht mehr von dem teuren Benzin“, fährt sie fort.
Ihre Pläne enthalten auch detaillierte Anweisungen zum Ablauf der Lieferungen. Darin wird den Fahrer:innen mitgeteilt, welche Kiste an welchen Ort und zu welcher Person geliefert werden soll und wen sie zu welcher Zeit anrufen müssen, damit die Personen vorbereitet sind und die Lieferung so schnell wie möglich erfolgen kann. Bei etwa 200 Fahrten in den letzten sechs Monaten gab es nur zwei Zwischenfälle, bei denen eine Lieferung nicht dort ankam, wo sie hingehörte. Eine Kiste fiel samt Hilfsgütern vom Auto auf die Straße, eine andere Lieferung landete in den Händen der falschen Person. „Alle anderen Hilfsgüter wurden der richtigen Person zur richtigen Zeit übergeben“, sagt Maria stolz. Ihr System funktioniert und rettet Leben.
Trotz aller Pläne und Listen können sie die Gefahr nie vollständig ausschließen. „Nach einer Fahrt geraten wir oft in Panik, wenn wir auf eine Karte schauen und sehen, wie nah wir der Gefahr tatsächlich waren“, gibt Bohdan zu.
Der bisher schrecklichste Moment für ihn ereignete sich in der Nähe von Kyiv. „Ein Militärflugzeug flog sehr niedrig über uns hinweg. Dann explodierte eine Fabrik neben uns. Es ist Angst einlösend, wenn Raketen in deine Richtung fliegen.“ Auch wenn es sehr gefährlich und beängstigend ist, lehnt Bohdan nie eine Fahrt ab. „Ich kann nicht damit aufhören. Ich sehe Menschen, die in U-Bahn-Stationen leben, und ich höre, was die Vertriebenen über den Krieg erzählen. Es ist meine Verantwortung, ihnen zu helfen und sie von dort wegzubringen“, sagt Bohdan. Aber es gibt auch Momente der Hoffnung, die Bohdan Kraft zum Weitermachen geben. „Die Menschen wissen unsere Hilfe wirklich zu schätzen. Sie warten jetzt auf uns. Manchmal macht mir jemand spät nachts ein Sandwich, wenn wir ankommen. Ich kann sehen, dass das, was wir tun, wichtig ist“. Neben den Familien retten die Fahrer:innen auch Haustiere. Einmal hatte Bohdan 42 Katzen in seinem Auto. Eine von ihnen gebar Kätzchen auf der Fahrt. In den 25 Wochen seit der Eskalation des Krieges hat Bohdan 27 Fahrten in diese Gebiete unternommen, aber er hat immer noch das Gefühl, dass er nicht genug tut. „Ich möchte mehr tun, auch wenn ich ununterbrochen arbeite. Wenn ich in ein Café gehe, um eine Tasse Kaffee zu trinken, habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich könnte unterwegs sein und mehr Menschen retten“, sagt der Student mit Blick auf die Tasse Kaffee vor ihm.
Auf jeder Fahrt erfahren die Studierenden, welche Hilfsgüter derzeit benötigt werden. „Lebensmittel werden am meisten benötigt. 90 Prozent der Geschäfte in Gebieten mit aktiven Kämpfen sind geschlossen. Die Menschen haben keine Lebensmittel. Sie sind hungrig. In Mykolajiw gibt es kein sauberes Trinkwasser mehr. Zuerst hatten wir nur ein paar Flaschen Wasser dabei, jetzt bringen wir Filter mit und das Auto ist immer voll mit Wasser“, beschreibt Maria. Die Studierenden benötigen weitere grundlegende Hilfsgüter wie Lebensmittel, Wasser und Medikamente, aber sie denken auch an den Winter. „Es wird ein sehr schwieriger Winter werden. Die Menschen sind verausgabt. Psychologische Unterstützung wird immer dringender gebraucht“, sagt Maria. Die Freiwilligen sind seit sechs Monaten im Dauereinsatz. Auch die Fahrer:innen werden irgendwann an ihre Grenzen stoßen, denn eine solche Fahrt über vier Tage, bei der bis zu 10 Städte beliefert werden, ist körperlich anstrengend.
Sie halten nie an. Nicht einmal, wenn es einen Luftalarm gibt. Anhalten ist zu gefährlich. Maria und Bohdan werden weitermachen, solange sie können. „Wir bekommen viel Unterstützung. Einmal hat mir ein Beamter an der polnischen Grenze geholfen, obwohl ich die falschen Papiere hatte. Wir sind jetzt alle eine Gemeinschaft“, meint Maria.
Wie CARE Menschen unterstützt, die von der humanitären Notlage in der Ukraine betroffen sind:
Sechs Monate nach der Eskalation des Krieges haben CARE und Partner mehr als 466.000 von der Krise betroffene Menschen in der Ukraine, Polen, Rumänien, Georgien und Deutschland erreicht. In der Ukraine liegt unsere Priorität auf der Verteilung von lebenswichtigen Medikamenten, Nahrungsmitteln, Wasservorräten sowie von Hygienesets und Bargeld an betroffene Familien, außerdem dem Leisten von psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit unseren Partnern zusammen, um besonders gefährdete Gruppen - Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen - zu unterstützen, indem wir die Hilfsgüter entsprechend ihren Bedürfnissen verteilen und sichere Orte für sie einrichten.