Hanna blättert in einem Buch.

Hanna sitzt in einer kleinen, gemütlichen Dorfbibliothek. Es duftet nach alten Büchern. Die Stille der Bibliothek wird nur vom Knarzen des alten Holzfußbodens unterbrochen – und von Explosionen und Schüssen. Die Bibliothek ist in Sviatohirsk, einer kleinen Stadt in der Region Donezk, die früher ein Touristenzentrum war. Heute leben hier nur noch wenige Menschen. Der Krieg hat die meisten zur Flucht gezwungen. Hanna aber ist geblieben. Die Bibliothek ist ihr Zufluchtsort. „Ich bin 53 Jahre alt und habe mein ganzes Leben in Sviatohirsk verbracht. Ich habe die Besetzung miterlebt, aber durchgehalten.“ Hanna lächelt, doch die Müdigkeit in ihren Augen ist nicht zu übersehen. Früher habe sie Angst gehabt, ihre Geschichte zu erzählen. Heute spricht sie darüber. Leise, aber selbstbewusst. 

Ein Leben davor und danach

Die Eskalation des Krieges ist für die meisten Menschen in der Ukraine eine Zäsur in ihrem Leben. Vorher hat Hanna als Einrichtungsleiterin in einem Kinderheim gearbeitet. In ihrer Freizeit malte sie gerne – meistens die Natur, das friedliche Leben. „Mein Haus steht noch“, erzählt sie mit zittriger Stimme. „Ich öffne die Fenster allerdings nicht mehr – es ist zu beängstigend. Das Buch, was ich vor dem Schlafengehen gelesen habe, ist voller Staub. Ich habe keine innere Ruhe mehr, um zu lesen.“ Die Stadt ist vom Krieg gezeichnet, die Umgebung ist kaum wiederzuerkennen. Alles, was vorher vertraut war, hat sich für immer verändert. „Ich habe mein vorheriges Leben geliebt. Lange Spaziergänge, Angeln, Pilze sammeln. Die Natur hat mir schon immer Kraft gegeben – der Geruch des Waldes und das Rauschen der Blätter. Damals dachte ich manchmal, ich hätte ewig Zeit. Jetzt hat sich alles geändert – mir bleiben nur noch die Erinnerungen. Wenn ich Angst bekomme, versuche ich mich an den Geruch des Waldes zu erinnern.“ Ein Sparziergang im Wald wäre heute undenkbar. Nicht nur wegen des Beschusses, sondern auch wegen der vielen Mienen, die oft unbemerkt bleiben, bis jemand versehentlich darauf tritt. 

Hanna malt ein Bild und lacht.

„Nicht leicht, aber leichter“

Gemeinsam mit der lokalen Partnerorganisation Avalyst und mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union bietet CARE den Menschen in Sviatohirsk psychosoziale Unterstützung an. „Als ich das erste Mal zu einer der Sitzungen gegangen bin, hatte ich ein bisschen Angst und war aufgeregt. Ich wollte einfach den anderen zuhören, ohne selbst etwas sagen zu müssen. Und schon das hat mir geholfen, weil ich gemerkt habe, dass ich mit meinen Sorgen und Ängsten nicht allein bin. Uns geht es allen so“, sagt Hanna. Die Sitzungen sind keine Wunderpille, die all das Erlebte vergessen machen. Doch sie sind ein Anker, ein Anker der Stabilität. „Durch die Sitzungen habe ich meine Angst in den Griff bekommen. Es ist leichter geworden zu atmen. Nicht leicht, aber leichter. Ich kann sogar wieder sprechen und an mich glauben. Das war vorher undenkbar“, erzählt Hanna. 

 

Doch die alltäglichen Herausforderungen bleiben. Hanna und die anderen Stadtbewohner:innen müssen lernen, damit umzugehen. „Das Schwierigste ist die Ungewissheit“, sagt sie. „Jeder Tag ist eine Herausforderung. Wird es Wasser geben? Wird es genug Geld für Medikamente geben? Bin ich morgen noch am Leben? Wir passen uns an. Die Dinge sind etwas einfacher geworden: Es gibt Strom, die Geschäfte sind geöffnet. Aber Wasser ist immer noch ein Problem – sie bringen es nach einem bestimmten Zeitplan. Deshalb gibt es nicht immer Wasser und alles ist teuer.

Auf die Frage, was ihr Kraft gibt, antwortet sie ohne zu zögern: „Die Hoffnung, dass der Krieg irgendwann zu Ende geht. Dann sitze ich mit meinen Enkeln im Garten und wir reden über das Leben. Nicht über Verluste.“ Und vielleicht wird eines Tages in der Bibliothek von Sviatohirsk das Knarzen der alten Holzböden das Einzige sein, was die Stille in dem alten Gebäude bricht. 

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