Ich stehe vor einer geschlossenen Tür in einer Notunterkunft im Westen der Ukraine. Ich hebe meine Hand, um zu klopfen, aber ich zögere. Ich brauche noch ein paar Atemzüge und muss mich seelisch vorbereiten.

Sarah Easter streichelt einen Hund in einer Notunterkunft in der Ukraine.

Ich klopfe und trete ein. Eine Mutter sitzt auf einem Bett und hält ihre 2 Jahre alte Tochter im Arm. Ein Hund rennt um mich herum und wirft mich fast um, was alle zum Lachen bringt. Ich gehe in die Hocke, um einen kleinen Spitz namens Motia zu streicheln. Dann schlage ich mein Notizbuch auf. Die ersten Fragen sind eher allgemeiner Natur, um mit meinen Gesprächspartner:innen langsam ins Gespräch zu kommen. Ich frage nach Namen, Alter, Beziehungsstatus und woher sie kommen. Aber hier in der Ukraine ist die letzte Frage der Vorbereitung auf das Gespräch für mich manchmal eine der schwierigsten. Die Namen von Städten und Orten sind mit Bildern verbunden. Wenn die Menschen, die ich treffe, mir sagen, dass sie aus Mariupol, aus Irpin oder Butscha kommen, muss ich immer erst einmal tief durchatmen. Von diesen Orten habe ich Bilder aus den Nachrichten im Kopf. Dann erzählen mir die Menschen, die vor mir sitzen, ihre Geschichten.

Sie erzählen mir von Raketen, die durch Wohnungen fliegen und von Leichen auf der Straße. Sie erzählen mir von wackelnden Fenstern und Häusern wegen der Explosionen. Sie sprechen von Monaten Unterschlupf in dunklen, kalten, schmutzigen Kellern mit Ratten und Insekten, ohne Licht, Wärme, Wasser oder Strom. Ich höre von ihrem Schrecken, ihrer Angst und ihren Traumata. Ich treffe eine Mutter, die auf der Flucht vor Raketen und Bomben ein Kind geboren hat. Mir gegenüber sitzen Familien, Paare, Frauen und Kinder, die nur eine Tasche mitnehmen konnten. Ihre Häuser und ihr gesamter Besitz wurden zerstört. Sie erzählen mir von all den Dingen, die sie verloren haben: Freund:innen, Familienmitglieder, Haustiere und Häuser. Hinter jeder Tür dieser Unterkunft gibt es eine Geschichte zu erzählen.

Vanya, Victoria und Victor in einer Notunterkunft in der Ukraine.

Zwei Türen weiter treffe ich Kristina mit ihren Spielsachen – darunter eine Spielzeugkatze und ein Schwein, die auch Kristina heißen. Ihr älterer Bruder Sasha (15) erzählt mir, dass er gerne malt und dass er seine Bilder verkaufen möchte, um mit dem Geld krebskranken Kindern zu helfen. Er hatte selbst fünf Jahre Krebs. Ein Stockwerk tiefer, hinter einer anderen Tür, wohnt Victor, 72. Er steht auf, als ich eintrete, stellt sich mit seinem vollen Namen vor und zeigt mir sogar seinen Ausweis, was mich zum Lächeln bringt. Er steht sehr aufrecht und streicht dann das Laken auf seinem unteren Etagenbett glatt. Er teilt sich das Zimmer mit fünf anderen Vertriebenen. Er erzählt mir, dass er auf seine Frau wartet, die im Moment im Krankenhaus liegt. Sie hat sich das Bein gebrochen. Wegen des Krieges und der Kämpfe konnten sie drei Monate lang nicht in ein Krankenhaus gehen. Ihr Bein ist in einem sehr schlechten Zustand, aber er ist froh, dass sie jetzt die Hilfe bekommt, die sie braucht.

Ich komme an einer Wand mit Kinderzeichnungen vorbei und bleibe stehen, um sie mir anzuschauen. Hier gibt es viele Talente. Die meisten Kinder können besser zeichnen, als ich es je könnte. Ich lächle, als ich auf eine Zeichnung eines Engels zeige. Victoria, die Leiterin der Unterkunft, deutet auf eine Zeichnung eines Jeeps im hohen Gras und erzählt mir, dass der Junge, der das gemalt hat, gesehen hat, wie sein Vater erschossen wurde.

Jede:r hat eine Geschichte und es ist sehr schwierig, sie zu hören, aber das ist die Realität dieser Menschen. Das ist es, was sie in den letzten sechs Monaten gesehen, gehört, gefühlt und durchlebt haben. Auch für die Frauen, Paare und Familien ist es sehr schwierig, ihre Geschichten zu erzählen. Es liegen immer Taschentücher bereit. Ich habe die Art und Weise, wie ich meine Fragen stelle, bei all meinen Begegnungen hier angepasst.

Sarah Easter mit einer Bewohnerin der Notunterkunft und ihrem Baby.

Wenn wir einen schwierigen und emotionalen Punkt in ihrer Geschichte erreichen, sage ich ihnen, dass wir jederzeit aufhören können und sie nach draußen gehen können, wenn sie das brauchen. Die meisten sagen mir, dass sie darüber reden wollen, was ihnen passiert ist. Sie wollen ihre Geschichte mit mir teilen. Wenn ich merke, dass es ihnen zu schwerfällt, weiterzumachen, ändere ich meine Fragen und wechsle zu leichteren Themen. Ich stelle Fragen zu ihren früheren Berufen, zu ihren Haustieren, ihren Kindern, ihren schönsten Erinnerungen. Sobald ich das Gefühl habe, dass der Zeitpunkt richtig ist, gehe ich zu den schwierigen Themen zurück. Die Schießerei, die Bomben und die Angst. Ich schließe immer mit etwas Gutem, etwas Lustigem. Ich erzähle ihnen, wie schlecht mein Ukrainisch ist. Oder lasse das Baby auf dem Schoß der Mutter meinen Finger essen. Das mache ich nicht nur für sie, sondern auch für mich selbst. Denn ich will das Gespräch nicht mit Angst, Wut und Traurigkeit beenden.

Es ist wichtig, all diese Geschichten zu hören, selbst dort, wo ich sie nicht erwarten würde. Die Leiterin eine Notunterkunft erzählt mir, dass sie manchmal noch neben ihrem Bett schläft, weil sie immer noch Angst vor den Explosionen hat, die vor einigen Monaten ihr Haus in der Region Donetsk erschütterten. Der Fotograf, der mich die ganze Woche über begleitet, fragt mich, ob ich einen Hund adoptieren möchte, den er in den ersten Wochen des Krieges gerettet hat. Meine Übersetzerin erzählt mir, dass sie wegen des Luftalarms Angstattacken hat. Selbst in Momenten, in denen ich nicht an meine Arbeit denke, wenn ich nach einem langen Reisetag und Begegnungen mit den erstaunlichsten und widerstandsfähigsten Frauen beim Abendessen in einem Restaurant sitze, höre ich eine Geschichte. Die Kellnerin bringt das Essen und erzählt, dass sie Lebensmittelpakete für die Notunterkunft vorbereiten, die ich an diesem Tag gerade besucht habe. Sie sagt, dass das Essen, das wir bestellt haben, ihnen hilft, weitere Pakete bereit zu stellen.

Jede:r hier hat eine Geschichte zu erzählen, und ich möchte sie mir alle anhören. Ich möchte sie in meinem Herzen, aber auch auf Papier mitnehmen und diese Geschichten zu Hause weitergeben, denn sie müssen erzählt werden und man muss sie hören. Es ist wichtig, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was die Menschen tagtäglich erleben, ihre Bedürfnisse zu verstehen, um dort zu helfen, wo es gebraucht wird. Es geht darum, die Mittel zu beschaffen, um diesen Menschen in Not helfen zu können.

Sarah Easter im Gespräch mit der Unterkunftsleiterin Leona.

Wie CARE Menschen unterstützt, die von der humanitären Krise in der Ukraine betroffen sind:

Sechs Monate nach der Eskalation des Krieges haben CARE und Partner mehr als 466.000 von der Krise betroffene Menschen in der Ukraine, Polen, Rumänien, Georgien und Deutschland erreicht. In der Ukraine liegt unsere Priorität auf der Deckung des unmittelbaren Bedarfs der betroffenen Familien durch die Verteilung von lebenswichtigen Medikamenten, Nahrungsmitteln und Wasservorräten sowie von Hygienesets, Bargeld und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit unseren Partnern zusammen, um besonders gefährdete Gruppen - Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen - zu unterstützen, indem wir die Hilfsgüter entsprechend ihren Bedürfnissen verteilen und sichere Orte einrichten.

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