
„Ein direkter Treffer auf unser Haus war unsere größte Angst. Als die Häuser unserer Nachbarn eines nach dem anderen zerstört wurden, wussten wir, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch wir an der Reihe waren“, erzählt die 60-jährige Olga. Sie musste fast 100 Tage lang in ihrem Keller leben, als in ihrem Dorf in der Ostukraine aktive Kämpfe stattfanden. „Dort haben wir überlebt, mein Mann und ich und unsere zwei Hunde und zwei Katzen, die für uns wie unsere Kinder sind. Wir haben alles getan, um sie zu retten“, sagt sie.
Zwei Holztüren und fünf Betonstufen führen in den kleinen, zwei mal zwei Meter großen, dunklen Keller. Die Regale sind bis zum Rand mit Bohnen-, Gurken- und Erbsen-Konserven sowie großen Fünf-Liter-Wasserflaschen gefüllt. Eine Holzplanke ist mit einer Plastikfolie bedeckt, die als Bett diente. Der Boden ist nass und von der Decke tropft es. Es gibt kein Licht in diesem dunklen, feuchten Raum, in dem das Ehepaar mit seinen vier Haustieren überlebt hat. Auf der Außentür steht ein Wort mit weißer Kreide. „Wir haben ‚Menschen‘ auf die Kellertür geschrieben, um unsere Überlebenschancen zu erhöhen“, berichtet Olga und streicht vorsichtig über die verblassenden Kreidestriche.
„Wenn man verletzt wird, stirbt man“
„Obwohl der Keller aus Beton ist, konnten wir alles draußen hören. Die Schüsse, die Schreie, das Sterben und wenn die Häuser unserer Nachbarn getroffen wurden. Und dann war da noch der ständige Rauch der brennenden Häuser“, erinnert sich Olga. Zehn Tage lang brannten die Häuser ihrer Freunde. „Es war sehr windig. Wir konnten sehen, wie das Feuer auf die nächsten Häuser übergriff. Sie stürzten alle ein, dann das nächste und das nächste.“ Sie versuchten, die Flammen mit Sand zu löschen, aber nichts half, denn die Häuser sind alt und brennen leicht, und es gab keine Feuerwehrleute mehr im Dorf.
„Ich hatte Angst, dass ich mich verletzen und verbluten würde, weil es keine medizinische Versorgung gab. Wenn man verletzt wird, stirbt man“, erklärt Olga, und das wäre ihr beinahe passiert, wenn sie sich nicht rechtzeitig auf den Boden geworfen hätte. „Einmal wurde das Haus eines Nachbarn direkt getroffen. Ich war draußen, um einen Ort zu finden, an dem ich mein Telefon aufladen konnte, weil ich meine Kinder kontaktieren wollte. Überall flogen Granatsplitter.“

Die größte Herausforderung für die Dorfbewohner:innen war es, Lebensmittel und Trinkwasser zu finden. Einige hatten noch funktionierende Brunnen, sodass sich die verbliebenen Nachbar:innen organisierten, um sich gegenseitig zu helfen. „Es war sehr gefährlich und beängstigend, sich außerhalb des Kellers zu bewegen. Auf der Hauptstraße wurden Menschen getötet und ihre Leichen mussten dort zurückgelassen werden. Wir mussten also andere Wege finden, um uns fortzubewegen“, berichtet Olga. Die gesamte Nachbarschaft hatte ein System eingerichtet, um sich gegenseitig zu kontaktieren, wenn eine Verbindung bestand, um mitzuteilen, welche Wege zu diesem Zeitpunkt sicher waren. „Wir schlichen von Haus zu Haus und durch Hinterhöfe, um nach Essen zu suchen. Und wann immer es einem Nachbarn gelang, eine Telefonverbindung herzustellen, informierten sie die Familien außerhalb von Sviatohirsk darüber, wer noch am Leben war.


Jetzt, zwei Jahre nach Beginn der Eskalation des Krieges, sind 80 Prozent der Gebäude in Olgas Dorf beschädigt oder zerstört. Es gibt kein fließendes Wasser, da die Leitungen beschädigt wurden. Die ganze Gegend ist voller Minen. „Wir können nur die asphaltierten Straßen sicher benutzen“, beschreibt Olga. Nicht nur Landminen machen das Leben in Sviatohirsk gefährlich, sondern auch sogenannte Antipersonen-Blattminen, die besonders klein und nach dem humanitären Völkerrecht verboten sind. „Sie sind sehr gefährlich, weil sie nur wie ein Stück Müll aussehen und jederzeit explodieren können. Sie sind überall, auf Ästen, in unseren Gärten und an Orten, an denen man normalerweise spazieren geht oder arbeitet“, erklärt Olga. Ihr Haus und ihr Hof wurden für minenfrei erklärt, wenigstens dort kann sie sich jetzt frei bewegen. „Ich habe auch darum gebeten, dass der Weg zwischen meinem Haus und dem zurückgelassenen Hund des Nachbarn auf Minen untersucht wird, damit ich ihn füttern kann. Minen gibt es überall, deshalb werden nur die absolut notwendigen Wege gesäubert und kontrolliert, nicht aber darüber hinaus. So kommen wir keinen Schritt nach links oder rechts vom Weg ab“, berichtet Olga, während sie sich um ihr Haus kümmert.



Die Decke ihres Wohnzimmers ist rissig. Es hatte einige Monate lang getropft, bis das Dach von einem CARE-Partner repariert wurde. Auch ein Fenster wurde ersetzt, das von einem Schrapnell getroffen wurde. 40 Häuser wurden mit Unterstützung von CARE in Sviatohirsk repariert, weitere 325 sind in der Renovierung. Vor der Eskalation des Krieges vor zwei Jahren lebten in dem Dorf und den umliegenden Siedlungen 12.000 Menschen. Jetzt sind es noch 2.700, von denen 1.200 bereits älter sind, wie Olga und ihr Mann. „Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung und versuchen jeden Tag, in einen Zustand der Normalität zurückzukehren. Nach all dem, was passiert ist, bin ich sehr froh, dass wir überlebt haben“, sagt Olga.
Unterstützen auch Sie die CARE-Hilfe für die Betroffenen des Krieges in der Ukraine mit Ihrer Spende!