„Mein Leben ist eine Lotterie“, sagt Vasyl, 66, und beschreibt damit die Realität des Krieges für diejenigen, die in Gebieten mit schweren Kämpfen zurückgeblieben sind oder zurückgelassen wurden. Jedes Mal, wenn Vasyl sein Haus in der südlichen Stadt Kherson verlässt, weiß er nicht, ob er lebend zurückkommt und ob sein Haus noch unbeschädigt sein wird. „Wir gehen nur für kurze Strecken raus und nur, wenn es absolut notwendig ist“, fährt er fort. Notwendig bedeutet für ihn, dass er Nahrung, Wasser oder Hilfsgüter braucht. „Nirgendwo ist man sicher. Nirgendwo kannst du dich verstecken, der Krieg wird dich immer finden“, sagt er, während in der Ferne eine Explosion hallt und die Fenster vibrieren lässt.

Vasyl schaut in die Kamera.

Rennen, nicht laufen

Wann immer Sviatlana ihr Haus verlassen muss, rennt sie. „Wir leben in unserem Keller, um sicher zu sein. Aber manchmal muss ich etwas zu essen besorgen oder meiner Mutter helfen, die 85 Jahre alt und in ihrer Mobilität eingeschränkt ist. Ich renne so schnell ich kann, um meine Zeit draußen zu begrenzen und nicht so ein leichtes Ziel zu sein“, sagt Sviatlana.

Sviatlana hat Tüten von einer Verteilung in der Hand.

Während sie rennt, lauscht sie auf die Explosionen. Sie achtet auf das pfeifende Geräusch, die Intensität und den Lärmpegel. „Wenn ich laufe, versuche ich immer, mich mit einer Mauer zu schützen, damit ich lebend zu meiner Tochter zurückkehren kann“, sagt sie.

So nahe an einem Gebiet mit aktiven Kämpfen zu leben, ist sehr gefährlich und unsicher. Die Bewohner wissen nie, was morgen, in der nächsten Stunde oder Minute passieren wird. „Jeder Tag könnte unser letzter sein. Wir leben nicht, wir überleben nur. Wenn wir nicht fliehen, sitzen wir im Keller und warten darauf, dass die Explosionen aufhören, damit wir wieder loslaufen können“, sagt sie und nimmt ihren Schlafsack, den sie bei einer Verteilung von einem CARE-Partner für ihren Keller erhalten hat. Sie möchte ihn sicher nach Hause bringen – und so rennt sie los.

Kein Gas, kein Strom - keine Wärme

Während Iryna, 58, darauf wartet, dass die Explosionen aufhören, sitzt sie bei etwa sechs Grad Celsius mit ihrer Strickmütze und ihrer dicken Jacke auf einem alten Stuhl in einem kaputten Aufzugsschacht. „Es ist kalt in unserer Wohnung, wir haben seit zwei Wochen keine Heizung mehr, weil es in diesem Teil der Stadt weder Gas noch Strom gibt“, berichtet Iryna. Viele Bewohner von Kherson haben derzeit nur zwei bis sechs Grad in ihren Wohnungen, aber die Winter in der Region sind hart und die Temperaturen können noch weiter fallen. „Wenn es keine Explosionen gibt, laufe ich in unserem Garten auf und ab, um mich aufzuwärmen“, erzählt Iryna. Die Schlafsäcke, die sie an diesem Tag bei einer Verteilung durch einen CARE-Partner erhalten hat, helfen ihr und ihrer Familie, sich warm zu halten.

Iryna unterschreibt ein Dokument.
Iryna aus Kherson bekommt einen CARE-Paket

„Ich bin sehr dankbar für die Unterstützung, weil wir sonst nicht überleben würden“, sagt sie. Vor ein paar Monaten wurde ihr Wohnhaus direkt von einer Rakete getroffen. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hörte die Explosion und sah dann das Feuer, hörte die Schreie und das Weinen meiner Nachbarn. Wir hatten großes Glück, dass wir überlebt haben“, sagt sie und entschuldigt sich, weil ihr Telefon klingelt: ihr Mann. Er macht sich Sorgen, dass sie schon zu lange weg ist, und fragt, ob sie verletzt ist und Hilfe braucht.

Zerstörte Wohnhäuser

In der Ukraine kommt es täglich zu direkten Treffern auf Häuser oder die zivile Infrastruktur. Wenn Dächer beschädigt sind, dringen Wasser und Schnee in die Gebäude ein und verschlimmern die harten Bedingungen zusätzlich. Fenster werden zertrümmert. Strom, Heizung und Wasserversorgung sind unterbrochen. „Ich hörte zwei Explosionen und suchte schnell Schutz im Hausflur. Unser Keller war überflutet, sodass wir nicht hinuntergehen konnten. Dann folgten zwei weitere Explosionen. Die fünfte traf unser Haus direkt“, erinnert sich Halyna.

Halyna steht vor ihrem Wohngebäude.
Das Haus von Olga ist provisorisch mit einer Sperrholzplatze repariert.

Das Dach ihres Wohnhauses wurde schwer beschädigt und das Wasser drang in ihre Wohnung im obersten Stockwerk ein. „Wenn es regnete, lief ich herum und sammelte das Wasser in allen möglichen Behältern, damit es die Nachbarn unten nicht überflutet“, sagt sie.

Olga trägt Wassereimer.

Das Dach wurde von einem CARE-Partner repariert, aber das zerbrochene Fenster ist nun schon seit neun Monaten kaputt. Die Faserplatten reichen nicht aus, um die Kälte draußen zu halten.

Im Nachbardorf gibt es schon seit fast einem Jahr kein fließendes Wasser mehr, weil die Infrastruktur direkt getroffen wurde. „Jeden Morgen stehe ich um 8 Uhr auf, um mit Eimern 150 Liter Wasser zu meinem Haus zu tragen, denn das braucht meine Familie täglich zum Kochen, Putzen, Duschen oder Trinken“, erklärt Olga, 55, aus Sviatohirsk.

Mit Unterstützung von CARE hat eine Partnerorganisation an mehreren Stellen in der Stadt Wassertanks aufgestellt, um eine ausreichende Wasserversorgung für diejenigen zu gewährleisten, die nicht fliehen konnten und vor Ort bleiben.

Entbindung, während die Bomben fallen

Nadia und ihrem Mann Vicheslav gelang es, aus ihrem Haus in Kherson nach Odesa zu fliehen. „Wir konnten zu Hause nicht mehr überleben”, sagt Nadia. Jetzt begrüßen sie das jüngste Mitglied ihrer Familie: Tochter Myroslava. Sie ist das erste Neugeborene des Jahres 2024 in Odesa und wurde am 1. Januar um 02:30 Uhr morgens geboren. „Odesa wurde zu dieser Zeit stark bombardiert und wir hatten große Angst, als die Wehen einsetzten. Aber das Krankenhauspersonal hat sich sehr gut um uns gekümmert. Wir sind sofort in den Schutzraum gegangen“, sagt Nadia. Sie lag auf einem Bett im dunklen Korridor des Bunkers, während ihr Mann ihre Hand hielt. „Die Explosionen waren ganz nah, aber ich habe versucht, ihr gegenüber keine Angst zu zeigen“, berichtet Vicheslav. 

Die jungen Eltern halten ihre kleine Miroslava auf dem Arm.

Im Jahr 2023 haben fast 2.000 Mütter in dieser Entbindungsstation entbunden. CARE unterstützt das Krankenhaus mit einem Partner, der wichtige Materialien und Schulungen für das Personal bereitstellt. Myroslava wurde gesund und ohne Komplikationen geboren. „Wir haben Glück. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie andere schwangere Frauen, die noch in Kherson sind, es machen. Es gibt keine Infrastruktur mehr und keine medizinischen Einrichtungen“, sagt Nadia. In ihrer Stadt gibt es keine sicheren Orte mehr. „Die Seele hat die Stadt verlassen. Früher gab es in Kherson so viele Kinder, die auf der Straße spielten, aber jetzt wachsen sie in Kellern auf“, sagt Vicheslav.

Flucht ohne Vorwarnung

Diejenigen, die fliehen, können oft nicht alle mitnehmen. „Wir hatten zehn Minuten Zeit, um unsere Koffer zu packen. Zuerst konnte ich nicht glauben, dass dies im 21. Jahrhundert geschieht. Die Stadt stand still, keine Geschäfte waren geöffnet, niemand bewegte sich und es war so ruhig. Wir haben nicht auf das Schlimmste gewartet und sind sofort nach Zaporizhzhia geflohen“, erzählt Olena, 48. Ihr Zuhause ist 100 Kilometer entfernt. Olena, ihre siebenjährige Tochter und ihr Mann flohen. Ihre Eltern und Schwiegereltern blieben zurück.

Olena steht im Womens Space.

„Damals dachten wir nicht, dass wir uns die nächsten zwei Jahre nicht sehen würden“, erklärt sie. Da ihre Heimatstadt in einem Gebiet liegt, in dem heftig gekämpft wird, haben ihre Eltern manchmal monatelang keinen Telefonanschluss. „Ich habe das immer im Hinterkopf und zähle jeden Tag, an dem ich nicht mit ihnen gesprochen habe. Das letzte Mal war vor einer Woche“, sagt sie. Vor einigen Monaten, nachdem die Verbindung wieder wochenlang unterbrochen und wiederhergestellt wurde, erfuhr sie, dass ihr Schwiegervater gestorben war. „Er war verletzt und befand sich in einem schlechten Zustand. Es gab keine medizinische Hilfe oder ein Krankenhaus, das ihm helfen konnte, und so erlag er seinen Verletzungen.“

Olena und ihre Tochter besuchen regelmäßig einen Frauenraum eines CARE-Partners in Zaporizhzhia. Sie kommen zu psychosozialen Sitzungen und Beratungen, die ihnen helfen, mit der Angst und der Apathie fertig zu werden. „Wir lernen jeden Tag, uns an unsere neue Realität anzupassen. In diesem Raum sind wir wie eine Familie“, fasst Olena zusammen.

Vlodomyr und seine Frau stehen bei einer Verteilung.

Dies ist die Realität des Krieges der letzten zwei Jahre. Und nach dieser langen Zeit fordert er seinen Tribut. „Wir sind erschöpft, ich kann die Angst nicht mehr spüren, weil ich einfach jeden Tag müde bin“, sagt Vlodymyr, 67.
Die Situation lastet schwer auf den Menschen; jeden Tag mehr, weil es keine Hoffnung gibt, dass es morgen besser wird. Und doch haben diejenigen, die noch da sind, Wege gefunden, um in dieser täglichen Lotterie um Leben und Tod zu bestehen. CARE steht dabei fest an ihrer Seite.

So helfen wir

CARE arbeitet in der Ukraine mit 21 Partnerorganisationen zusammen und unterstützt die betroffenen Menschen mit der Verteilung von Hygienesets, Küchengeräten und anderen lebensnotwendigen Dingen wie Taschenlampen, Powerbanks, Gaskochern und Schlafsäcken.

In Gebieten, in denen die Wasserversorgung beeinträchtigt ist, stellt CARE gemeinsam mit Partnern Wassertanks und Wäschereien bereit. Es werden außerdem beschädigte Dächer und Fenster wiederhergestellt sowie Gemeinschaftszentren und Frauenräume eingerichtet, die psychosoziale und rechtliche Informationen anbieten und medizinisches Personal schulen.

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