„Ich habe 70 Tage lang mit meiner Tochter in unserem Keller geschlafen. Wir haben jeden Tag geweint, weil wir solche Angst hatten“, beschreibt Tetyana, 33, die mit ihrer 12-jährigen Tochter aus der Region Luhansk im Osten der Ukraine geflohen ist. Sie flohen am 8. Mai mit dem letzten Bus aus der Region. „Im Keller war es kalt. Der Strom wurde manchmal abgestellt, und wir wussten nie, ob und wann er wieder eingeschaltet wird. Mein Mann ging los, um Lebensmittel zu besorgen. Im Laufe der 70 Tage schlossen immer mehr Geschäfte, und die Leute flohen. Als nur noch ein einziger Laden übrig war, wussten wir, dass es Zeit war, zu gehen“, erzählt Tetyana über ihre Zeit im Keller.
Während sie beschreibt, wie diese Zeit für sie emotional und psychisch war, ist sie ruhig und gefasst. Das war nicht immer der Fall. „Ich kam völlig gebrochen nach Rivne. Ich brauchte Hilfe und jemanden, mit dem ich reden konnte. Als in Rivne zum ersten Mal die Luftsirenen ertönten, war es, als würde sich etwas in mir zerbrechen. Ich war so überwältigt und hatte zu viele Emotionen“, erinnert sich Tetyana. Hilfe findet sie bei Tamara, 60, einer Psychologin, die für eine lokale Nichtregierungsorganisation arbeitet, die von CARE unterstützt wird. „Mit der Psychologin habe ich darüber gesprochen, was meine Hauptangst war. Ich bekam einige praktische Übungen, um meine negativen Gedanken zu kontrollieren, sie zu stoppen und ins Positive zu wenden. Jetzt kann ich besser mit meiner Angst umgehen. Ich kann darüber reden. Die Sirenen erschrecken mich nicht mehr so sehr“, beschreibt die Mutter.
Auch ihre Tochter hat zu kämpfen, seit sie nach Rivne gekommen ist. „Als wir noch im Keller wohnten, hat meine Tochter mir sehr geholfen. Sie war diejenige, die sagte, dass alles gut werden würde. Als wir nach Rivne kamen, war keine Freude mehr in ihr. Sie konnte nicht mehr lächeln“, erklärt Tetyana. Ihre Tochter spricht auch mit jemandem, der ihr empfiehlt, zu einer Massage zu gehen, damit sie ein bisschen Spannung abbauen kann. „Jetzt lächelt sie wieder“, sagt Tetyana und lächelt selbst. Sie ist froh, dass es ihrer Tochter besser geht.
Tetyana und ihre Tochter sind nur ein Fall von vielen. "Wir haben viel mehr Patient:innen mit Angstzuständen und Depressionen", sagt die 29-jährige Ärztin Bulavina Olena, die als Hausärztin in einer Gesundheitseinrichtung in Rivne arbeitet. Viele Menschen haben in ihrer Heimat oder auf der Flucht in sicherere Gebiete ein schweres Trauma erlebt. Sie fürchten um ihre eigene Sicherheit, um die ihrer Familie, ihrer Freund:innen und Verwandten, die sie zurücklassen mussten. Das Leben mit einem aktiven Krieg vor der Haustür ist emotional und psychisch schwierig.
„Die meisten meiner Patient:innen leben entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, aber ich helfe ihnen, ihr „Jetzt“ zu finden und in der Gegenwart zu leben“, erklärt die Psychologin Tamara. Sie arbeitet mit Binnenvertriebenen, die aus Gebieten mit aktiven Kämpfen geflohen sind und nun versuchen, ein einigermaßen normales Leben zu beginnen.
„Ich spreche mit Familien, die am Bahnhof in Lviv ankamen, als die Raketen einschlugen. Ich spreche mit Kindern, die laut singen, wenn die Luftsirenen losgehen, um sie nicht zu hören“, beschreibt Tamara. Es ist sehr wichtig, Angst und Trauma zu verarbeiten. Kurzfristig erhöht Angst die Atmung und die Herzfrequenz, wodurch der Blutfluss zum Gehirn konzentriert wird, wo er gebraucht wird. Langfristige Angst kann dazu führen, dass das Gehirn regelmäßig Stresshormone ausschüttet. Dadurch kommt es häufiger zu Kopfschmerzen, Schwindel und Depressionen. Der Körper erhält nie das Signal, zur normalen Funktion zurückzukehren, und das kann das Immunsystem schwächen und anfälliger für Infektionen und Krankheiten machen.
„Die meisten meiner Patient:innen stehen unter Stress und Schock. Ich versuche, ihnen die Angst zu nehmen. Ich glaube, dass es noch schlimmer werden wird und dass es viele Fälle von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) geben wird“, erklärt Tamara. Eine PTBS kann die Fähigkeit einer Person beeinträchtigen, zu arbeiten, alltägliche Aktivitäten auszuführen oder Beziehungen zu ihrer Familie und ihren Freunden zu pflegen. Tamara hat schon mit vielen Menschen gearbeitet, die ein traumatisches Erlebnis hinter sich haben. „Normalerweise beginne ich damit, dass ich sie ihre Ängste schildern und sie diese zeichnen lasse. Dann versuchen wir gemeinsam, das Negative zu finden und es ins Positive zu wandeln.“
Doch nicht jede Person möchte mit Psycholog:innen sprechen. Nicht alle möchten Hilfe in Anspruch nehmen. „Es gibt einige Fälle, in denen Menschen psychologische Unterstützung ablehnen, weil sie immer noch mit einem gewissen Stigma behaftet ist. Manche glauben, dass sie selbst damit fertig werden können“, meint Tamara.
Für diese Fälle hat Olena, 33, Psychiaterin in Lutsk, ein Buch geschrieben. „Ich habe ein Buch geschrieben, das Antworten auf die häufigsten Fragen zum Leben mit dem Krieg gibt, weil es den Betroffenen hilft, anonym zu bleiben“, erklärt Olena. In 38 kurzen Kapiteln beantwortet das Büchlein zum Beispiel Fragen, wie man mit Verwandten kommuniziert, die vor den anhaltenden Kämpfen geflohen sind, wie man Stress bei Kindern abbaut, wie man Schlafprobleme behandelt, wie man Schuldgefühle überwindet, ob es in Ordnung ist, Hass zu empfinden, was man tun kann, wenn man sich hilflos fühlt und wie man die Hoffnung nicht verliert. Mit der Unterstützung von CARE konnten sie in der ersten Ausgabe 2.400 Bücher drucken. Die Bücher werden kostenlos an binnenvertriebene Familien verteilt, aber auch in Gebiete geschickt, in denen noch aktiv gekämpft wird.
Das Gefühl der Schuld ist für einige ein großes Problem. Die freiwilligen Helfer:innen und andere haben das Gefühl, nicht genug zu tun. „Ich habe gelernt, mich auszuruhen und mit meinen Schuldgefühlen zu leben. Ich helfe, wo ich kann, aber ich muss mich zurückhalten, bevor ich ausbrenne. Ich muss meine eigene Angst kontrollieren und darf nicht in Panik geraten. Es ist in Ordnung, Angst zu haben“, sagt Iryna, 31, eine freiwillige Helferin in Lutsk.
Sie sammelt humanitäre Hilfsgüter und schickt sie in Gebiete mit aktiven Kämpfen. Sie ist eine der Empfängerinnen des Buches. Die Ratschläge in dem Buch helfen ihr, sich entspannter zu fühlen und mit sich selbst im Reinen zu sein. Sie versucht, für ihre 8-jährige Tochter Viktoria stark zu bleiben.
Die Verarbeitung von Emotionen und Traumata ist ein wichtiger Aspekt der Gesundheit. CARE unterstützt Familien, Frauen und Kinder, die das Extreme durchgemacht haben. Entweder durch Gespräche, durch Informationen darüber, wo sie Hilfe suchen können, oder anonym durch Hotlines oder Hilfsbücher.
Wie CARE Menschen unterstützt, die von der humanitären Krise in der Ukraine betroffen sind:
Sechs Monate nach der Eskalation des Krieges haben CARE und Partner mehr als 466.000 von der Krise betroffene Menschen in der Ukraine, Polen, Rumänien, Georgien und Deutschland erreicht. In der Ukraine liegt unsere Priorität auf der Deckung des unmittelbaren Bedarfs der betroffenen Familien durch die Verteilung von lebenswichtigen Medikamenten, Nahrungsmitteln und Wasservorräten sowie von Hygienesets, Bargeld und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit unseren Partnern zusammen, um besonders gefährdete Gruppen - Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen - zu unterstützen, indem wir die Hilfsgüter entsprechend ihren Bedürfnissen verteilen und sichere Orte einrichten.