Die erste Explosion, die ich höre, klingt wie ein entfernter Donner und lässt die Fensterscheiben klirren und den Boden unter meinen Füßen vibrieren. Ich halte kurz inne und lausche auf die nächste Explosion, dann atme ich tief durch und fahre mit meinem Interview mit dem 66-jährigen Vasyl fort. Er lebt in Kherson und wartet in der Schlange vor einer Verteilung durch eine CARE-Partnerorganisation. In den letzten zwei Jahren waren Explosionen in Kherson an der Tagesordnung und ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie ein Überleben unter diesen Umständen möglich ist.

Portraitaufnahme von Sarah Easter in der Ukraine.

„Hast du Angst?“, fragt mich Vasyl. Ich bin auf diese Frage nicht vorbereitet. Was soll man auf so eine Frage antworten? Es ist ein großes Privileg, in dieser Situation keine Angst zu haben, denn ich bin nur 1,5 Stunden in Kherson, während Vasyl und seine Nachbarn hier ihr Leben verbringen. Ich habe das Privileg, Kherson und die vom Krieg zerrissene Ukraine zu verlassen und in das friedliche Deutschland zurückzukehren. Sie können nicht gehen, weil es ihnen an Geld und Möglichkeiten mangelt, weil sie nur von ihrer kleinen Rente von 50 Euro im Monat leben oder weil sie sich um ihre alten Eltern kümmern müssen, die nicht mehr mobil sind.

Diejenigen, die zurückgeblieben sind oder zurückgelassen wurden, leben seit zwei Jahren mit diesem Krieg und ich erlebe nur einen kleinen Teil dessen, was das wirklich bedeutet.

Leben in ständiger Alarmbereitschaft

Jede einzelne Geschichte, die ich höre, macht mich anschließend sprachlos, und jedes Wort, das ich in mein orangefarbenes Notizbuch schreibe, wiegt schwerer als das nächste. Die Menschen riskieren ihr Leben jedes Mal, wenn sie aus ihren Kellern treten, um Nahrung oder Wasser zu suchen, und lauschen ständig auf Explosionen. Eine ganze Generation von Kindern wächst in dunklen und kalten Kellern auf und übernimmt Nachtschichten, um auf ihre Familienmitglieder aufzupassen.

Sarah Easter im Gespräch mit Vlodomyr.

Ich treffe Olga, die das Wort „Menschen“ an die Tür ihres Kellers geschrieben hat, um 100 Tage schweren Beschusses und Kämpfe zu überleben. Ich lerne Darya kennen, die neun Jahre alt ist und bis zwei Uhr morgens wach bleibt, um die Explosionen zu hören und notfalls ihre Mutter und Großmutter warnen zu können. Ich spreche mit Iryna, die jede Nacht in einem kalten, kaputten Aufzugsschacht darauf wartet, dass die Explosionen aufhören. Ich spreche mit Sviatlana, die sich nur noch rennend fortbewegt, um nicht so ein leichtes Ziel zu sein. Und ich spreche mit Kindern, die schreiend nach Hause laufen, wenn sie die Alarmsirenen hören. Und jedes einzelne von ihnen wirft sich im Korridor auf den Boden, wenn die Raketen kommen. 

Ich habe mit Menschen gesprochen, die sich nicht trauen, in der Nacht schlafen zu gehen, weil die Nächte am schrecklichsten sind. Sie sitzen nur da, warten und versuchen zu überleben, bis der nächste Tag beginnt. Sie lauschen auf jedes Geräusch in der Nacht.

Unendliches Leid

Als ich in meinem Hotelbett liege, kann ich nicht aufhören, an das zu denken, was ich die Tage zuvor gehört habe, und ich beginne, selbst den Geräuschen der Nacht zu lauschen. Es regnet und das Eis schmilzt und knackt. Ein Heizkessel im Badezimmer blubbert. Der Wind heult durch die Bäume. Äste schlagen gegen das Dach. Ein Auto rumpelt die Straße entlang. Drei Minuten nach Mitternacht ertönen die Sirenen des Luftalarms. Das lange Heulen des Alarms durchdringt alle anderen Geräusche und meinen ganzen Körper, während ich an die neunjährige Darya denke, die den Sirenen lauscht, an Iryna in ihrem Aufzugsschacht und an Olga und ihren dunklen, feuchten Keller. Und an das unendliche Leid in diesem Krieg für Millionen von Menschen im ganzen Land, die alles verloren haben. Dann höre ich zwei Explosionen in der Ferne und frage mich, wie viele Menschen gerade gestorben sind, verletzt wurden, ihr Zuhause oder Familienmitglieder verloren haben.

Sarah Easter auf dem Weg in den Keller von Olga.
Sarah Easter im Keller der Ukrainerin Olga.

Millionen von Menschen brauchen Hilfe

Sviatlana hat Tüten von einer Verteilung in der Hand.

„Jeder Tag könnte unser letzter sein“, erzählt mir Sviatlana aus Kherson. Sie ist froh, dass sie die Nacht überstanden und somit einen weiteren Tag überlebt hat. Sie ist sehr dankbar für die humanitäre Hilfe und erzählt mir, wie wichtig diese für ihr Überleben ist. Denn ihre Wohnung hat keine Heizung und es gibt keine Orte mehr, an denen man lebenswichtige Dinge wie Seife, Töpfe, Taschenlampen, Gasflaschen oder warme Schlafsäcke kaufen kann, um den strengen Winter zu überstehen. Sie erzählt mir aber auch, dass sie oft das Gefühl haben, von der Welt vergessen worden zu sein und dass die Aufmerksamkeit weitergezogen ist, während sie immer noch ums Überleben kämpfen. Der Krieg dauert nun schon seit zwei Jahren an, und die Medien haben begonnen, ihn zu ignorieren. Dabei wird oft vergessen, was die Realität des Krieges für jeden Einzelnen bedeutet, der mit der ständigen Angst lebt, zu sterben oder seine Angehörigen zu verlieren.

Der Krieg ist real. Und er findet jeden Tag in Europa statt. Wir müssen es besser machen und dürfen nicht wegschauen, denn Millionen von Menschen brauchen Hilfe, um zu überleben, und jede Unterstützung kann den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Ein bunter Spielplatz vor einem zerstörten Haus.

So hilft CARE

CARE arbeitet in der Ukraine mit 21 Partnerorganisationen zusammen und unterstützt die betroffenen Menschen mit der Verteilung von Hygienesets, Küchengeräten und anderen lebensnotwendigen Dingen wie Taschenlampen, Powerbanks, Gaskochern und Schlafsäcken. In Gebieten, in denen die Wasserversorgung beeinträchtigt ist, stellt CARE gemeinsam mit Partnern Wassertanks und Wäschereien bereit. Es werden außerdem beschädigte Dächer und Fenster wiederhergestellt sowie Gemeinschaftszentren und Frauenräume eingerichtet, die psychosoziale und rechtliche Informationen anbieten und medizinisches Personal schulen.

Unterstützen auch Sie die CARE-Hilfe für die Betroffenen des Krieges in der Ukraine mit Ihrer Spende!

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