Natalia deckt einen Tisch ein.

Natalia ist Psychologin. Sie beschäftigt sich beruflich mit Traumata und ist es gewohnt, Menschen, die Schicksalsschläge erlitten haben, zu begleiten. Doch seit der Eskalation des Krieges in der Ukraine hat sich ihre Arbeit massiv verändert. In der ukrainischen Gesellschaft sind viele Menschen traumatisiert. Auch Natalia gehört zu denjenigen, die ihre Heimat verloren haben, dennoch arbeitet sie weiter und unterstützt Menschen, die wie sie selbst unter den Folgen des Krieges leiden müssen. Früher lebte Natalia in der Bergbaustadt Myrnohrad. Weil die Frontlinie immer näher an ihre Heimatstadt heranrückte, musste ihre Familie evakuiert werden. Gemeinsam mit ihrer Tochter floh sie in die Region Kyiv. Später ist sie wieder näher an ihre Heimat gezogen, nach Sloviansk. Hier arbeitet sie nun seit über eineinhalb Jahren bei einer Partnerorganisation von CARE und hilft Menschen, die wie sie zu Binnenvertriebenen geworden sind. Ihre Arbeit wird von CARE und der Europäischen Union unterstützt und finanziert.

„Ich weiß, was es bedeutet, von der Familie getrennt zu sein. Diese Erfahrung ist ein so enormer Verlust von Sicherheit, dass ich großes Verständnis für alle Menschen habe, die zu uns kommen“, erzählt die Psychologin. „Ich kann das Geschehene nicht rückgängig machen, aber ich kann Menschen Werkzeuge an die Hand geben, die ihnen helfen, mit der Situation besser umzugehen.“

Natalia im Gespräch mit einer alten Frau.

Zuhören und Vertrauen gewinnen

Natalia ist Teil eines mobilen Psycholog:innenteams, das täglich in abgelegene Dörfer im Bezirk Kramatorsk reist, die sonst keinen Zugang zu psychosozialer Unterstützung hätten. Vor Ort leitet sie Sitzungen zu den Themen Resilienz, emotionale Erholung und Vertrauen. Jeden Tag berät und unterstützt sie mindestens fünf Menschen und führt jeden Monat mehr als fünfzig Einzelberatungen durch. Dabei fungiert sie vor allem als erste Anlaufstelle, berät ihre Klient:innen über das weitere Vorgehen oder verweist sie an Fachärzt:innen. Ein immer wiederkehrendes Thema ist dabei geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt. Natalia unterstützt Überlebende von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt, aber auch Menschen, die gewalttätig wurden, indem sie ihnen Strategien zum Stressabbau aufzeigt.

Die geliebte Heimat verlassen

Eine der größten Herausforderungen ist es, ältere Menschen davon zu überzeugen, ihre Heimat zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. „Sie wollen nicht gehen. Sie wollen ihre geliebte Heimat nicht verlassen“, berichtet Natalia. „Viele haben in ihrem Leben noch nie eine andere Stadt gesehen. Sie haben Angst um ihr Hab und Gut, um ihr Lebenswerk. Ich spreche mit ihnen dann nicht über den Verlust, sondern das Leben, über die neuen und sicheren Möglichkeiten. Denn das Leben ist wichtiger als materielle Dinge.“

Neben Einzelgesprächen betreut Natalia auch Gruppensitzungen. Vielen hilft es zu sehen, dass sie mit ihren Ängsten und Sorgen nicht allein sind. Die Schicksale der Menschen sind dabei alle unterschiedlich und doch gibt es so etwas wie einen roten Faden: Verlust der Heimat, Verlust eines geliebten Menschen und der Verlust von Gewissheiten. „Ich durchlebe jede Geschichte, als wäre es meine eigene“, erzählt Natalia nachdenklich. „Einmal brach es während einer Gruppensitzung aus einer Frau heraus und sie weinte. Ihr Sohn war gestorben, die Schwiegertochter und Enkel im Ausland. Sie selbst konnte nicht reisen, weil sie keinen Reisepass hatte. Die Frau war so überfordert mit der gesamten Situation, dass sie nicht die Kraft hatte, einen Pass zu beantragen.“ In solchen Situationen unterstützt Natalia durch Gespräche und lehrt Methoden, mit der Belastung umzugehen. „Das Problem von unbehandelten Traumata ist, dass ein Neustart unfassbar schwer wird“, erklärt die Psychologin. „Oftmals wird der Alltag zu einer unlösbaren Aufgabe. Das führt dazu, dass die Menschen keinen Weg finden, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.“

Eine Puppe als Symbol der Stärke

Natalia sprüht trotz ihres Schicksals voller Energie. Was sie antreibt? Ihre Kolleg:innen, ihre Arbeit und – Motanka-Puppen. „Das ist mein Hobby und meine Art, Bodenhaftung zu behalten. Ich mache Puppen aus Stoffresten – als Symbol für Hoffnung, Stärke und weibliche Energie. Es ist wie ein innerer Dialog“, sagt Natalia. Ich habe eine kleine Mutterpuppe und eine Tochterpuppe gemacht, und wenn ich meine Tochter vermisse, schaue ich mir die Puppen an. Die beiden Puppen sind immer zusammen und so fühle mich ein bisschen leichter.“ Die Motanka-Puppe sind auch ein Zeichen der Selbstwirksamkeit. Aus einfachen Stoffresten etwas Neues, etwas Schönes kreieren. Das möchte sie auch ihren Klient:innen mit auf den Weg geben. „Wir müssen lernen aus dem Wenigen, was wir haben, etwas Neues zu gestalten. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“ 

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