„Wir haben hart gearbeitet, um ein gutes Leben und einen guten Ruhestand zu haben. Wir hatten ein schönes Haus, einen Hund, eine Katze und ein Auto. Jetzt haben wir nichts mehr. Wir haben alles verloren, außer dem wenigen, was wir in unserer Panik in zwei kleine Taschen packen konnten“, erinnert sich Hanna, 68, während sie neben ihrem Mann Danylo sitzt. Die beiden stammen aus Mariupol. Am 2. April verließen sie ihre Heimat. Zweieinhalb Monate später kommen sie in Rivne, im Westen der Ukraine, an. Ihre Reise bis dahin ist mühsam.

 

Das Paar hat einen Sohn, der mit ihrem autistischen Enkel in Kyiv lebt. Ihr Sohn versuchte, seine Eltern davon zu überzeugen, zu ihm zu kommen und bei ihm zu leben. Er wollte sie abholen, doch sie weigerten sich. „Wir wollten unseren Hund und unsere Katze nicht zurücklassen. Wir wollten das einzige Zuhause, das wir je gekannt haben, nicht verlassen“, sagt Hanna.

Als die Kämpfe immer näherkamen, beschlossen Hanna und Danylo, in den Keller zu ziehen. Am 2. April klopfte es dann an die Tür. „Sie sagten uns, dass wir zehn Minuten Zeit hätten, um zu gehen. Wir hatten solche Angst und gerade mal Zeit, zwei Taschen zu packen. Alle Brücken, die aus Mariupol herausführen, waren bereits zerstört, also gab es nur noch einen Weg: Nach Osten in Richtung Russland“, erklärt Hanna. In aller Eile gingen sie.

 

„Es waren so viele Menschen auf der Straße. So viele Autos und Menschen, die zu Fuß unterwegs waren. Sie brachten uns in ein Lager, in dem wir ein paar Tage bleiben mussten. Überall gab es lange Schlangen. Mit uns reiste eine Zeit lang ein junges Paar. Sie wurden verhört und wir sahen sie nicht wieder“, erinnert sich Hanna. Ihr Mann nickt mit dem Kopf, während sie spricht, und umklammert seine Krücke, die er zum Gehen braucht. Hanna hält eine mittlerweile kalte Tasse Kaffee in der einen und ein Taschentuch in der anderen Hand. „Wir wussten nicht, was in unserem Land passiert. Wir wussten nicht, ob Kyiv noch steht oder ob alle tot sind. Es gab nirgendwo Informationen. Wir klebten Vermisstenanzeigen an Wände und fragten nach unseren Verwandten, um zu sehen, ob jemand überlebt hatte“, beschreibt Hanna. Das ältere Ehepaar setzte seine Reise in die einzige Richtung fort, die möglich war: über die Grenze nach Russland. Es gelang ihnen, Moskau zu erreichen.

„Ich hatte solche Angst. Ich dachte, ich würde jeden Moment erschossen werden. Danylo ging es besser. Er war mein Held und suchte immer nach einer Unterkunft, nach Informationen oder nach einem Weg zurück nach Hause“, fährt Hanna fort und legt ihre Hand auf das Bein ihres Mannes, der nur abwinkt und den Kopf schüttelt. Hanna übertreibe seine Bemühungen, sagt er.

Dann erkrankte Hanna an COVID-19. Drei Wochen lang lag sie in einem Moskauer Krankenhaus und hatte Atemprobleme. Das Paar wurde getrennt. Danylo machte sich Sorgen, suchte aber weiter nach einem sicheren Ort für sich und seine Frau, während sie allein im Krankenhausbett lag. Sie hatte vor allem, was sie umgab, Angst und kämpfte um ihr Leben.

Nach drei Wochen erholte sich Hanna und konnte das Krankenhaus verlassen, um zu ihrem Mann zu gehen. Er hatte mittlerweile einen Weg zurück in die Ukraine für sie beide gefunden. „Wir haben Russland über das Baltikum verlassen. Zwei Tage lang saßen wir in einem Bus. Meine Beine taten so weh, weil ich so lange sitzen musste“, erzählt Hanna. Ihre Knöchel schwellten an, weil sich Flüssigkeit angesammelt hatte. Aber sie konnten wieder in die Ukraine einreisen und erhielten zum ersten Mal Nachrichten aus der Heimat. Zu dem Zeitpunkt waren 90 Prozent von Mariupol zerstört. Ihr Zuhause war zerstört. Es gelang ihnen, ihren Sohn in Kyiv zu erreichen.

„Er und unser Enkel sind jetzt in einer anderen Wohnung. Zwei Raketen sind direkt durch seine alte Wohnung gegangen und haben sie zerstört“, sagt Hanna. Er bat sie, zu ihm nach Kyiv zu kommen, aber sie haben zu viel Angst. „Wir sind nach Rivne gekommen, weil wir einen Ort suchen mussten, an dem nicht geschossen wird und an dem wir schnell über die Grenze fliehen können. Unser Sohn wohnt jetzt im 13. Stock. Wir haben zu viel Angst, höher als in den ersten Stock zu gehen. Denn wenn der Luftalarm losgeht, haben wir nicht genug Zeit, um in den Keller zu kommen“, sagt Hanna. Ihr Mann rückt auf dem Sofa näher an sie heran, und sie dreht sich leicht um, winkt ihn ab, schmiegt sich aber trotzdem an ihn. Sie leben schon seit langem zusammen. Sie necken sich gegenseitig, aber geben sich auch viel Kraft.

In Rivne leben sie nun in einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss. Das Einzige, was ihnen von zu Hause geblieben ist, sind ihre beiden Taschen. Sie haben weder Handtücher noch Bettwäsche, keine Winterkleidung, keine Decken. Sie haben alles zurückgelassen. CARE und seine Partner unterstützen Binnenvertriebene wie Hanna und Danylo mit psychosozialer Betreuung, Informationen zu Arbeitsmöglichkeiten, Rechten und Hilfeleistungen sowie Rechtsberatung und Schulungen. Hanna und Danylo treffen sich an einer Bushaltestelle in Rivne mit einer Anwältin. Sie haben zu viel Angst um ihre Sicherheit, um Menschen in ihr neues Zuhause einzuladen. Die Anwältin hilft ihnen, indem sie ihre Bedürfnisse ermittelt, sie über ihre Rechte aufklärt und ihnen sagt, wo sie humanitäre Hilfe wie Lebensmittel- und Hygienepakete, aber auch finanzielle Unterstützung erhalten können. Außerdem unterstützt sie die beiden bei der Suche nach einer günstigeren Wohnung im ersten Stock oder Ergeschoss. Beiden wurde auch psychologische Unterstützung angeboten, die sie jedoch ablehnten.

„Ich weine immer noch. Ich kann das noch nicht begreifen und verarbeiten“, erklärt Hanna. Sie nimmt ein Schlafmittel, das ihr hilft, sich ein wenig zu entspannen. „Ich versuche, mich mit Hausarbeiten abzulenken und nicht zu emotional zu werden.“ Sie entschuldigt sich dafür, dass sie weint, während sie über ihre Erfahrungen spricht.

Hanna und Danylo vermissen ihr Zuhause sehr. „Jedes Mal, wenn ich Weintrauben im Laden sehe, fange ich an zu weinen“, sagt Hanna. Mariupol ist bekannt für sein feuchtes Klima mit warmen Sommern und kalten Wintern. Weintrauben gedeihen in dieser Gegend sehr gut. Aber sie sind froh, dass sie überlebt haben, in ihrer Heimat sind und, dass sie einander haben.

Wie CARE Menschen unterstützt, die von der humanitären Krise in der Ukraine betroffen sind:

Neun Monate nach der Eskalation des Krieges haben CARE und Partner mehr als 466.000 von der Krise betroffene Menschen in der Ukraine, Polen, Rumänien, Georgien und Deutschland erreicht. In der Ukraine liegt unsere Priorität auf der Deckung des unmittelbaren Bedarfs der betroffenen Familien durch die Verteilung von lebenswichtigen Medikamenten, Nahrungsmitteln und Wasservorräten sowie von Hygienesets, Bargeld und psychosozialer Unterstützung. Darüber hinaus arbeiten wir eng mit unseren Partnern zusammen, um besonders gefährdete Gruppen - Frauen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen - zu unterstützen, indem wir die Hilfsgüter entsprechend ihren Bedürfnissen verteilen und sichere Orte einrichten.

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