Tschernihiv ist in einem Mantel aus Schnee, einem Duft aus ukrainischen Leckereien und einem Echo aus hell singenden Kinderstimmen gehüllt. Die 36-jährige Tatiana sitzt mit ihren acht Kindern an einem reich gedeckten Tisch. Es ist der 6. Januar 2022, der Tag des Weihnachtsfests für die orthodoxen Kirchen sowie die Mehrheit der griechisch-katholischen Gemeinden in der Ukraine. Die Atmosphäre ist friedlich und beseelt. Niemand kann sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass dieses Gefühl wohl lange nicht mehr zurückkehren und sich ihr Leben in weniger als zwei Monaten komplett verändern wird. Die Heimat und das Umland von Tatianas Familie sind komplett zerstört. Ihr Leben ist eine blasse Erinnerung an die Vergangenheit.

Familie vor einem Weihnachtsbaum

Nicht so wie früher

„Am kommenden Weihnachtsfest werde ich meine Kinder nicht mehr zum Singen schicken. Es ist allein schon tagsüber zu gefährlich und abends herrscht die Ausgangssperre“, sagt Tatiana. Sie weiß nicht, wie sie mit den Kindern über den Krieg sprechen soll. „Die Älteren haben aufgehört, ihre Instrumente zu spielen und singen nicht mehr. Wenn Illya, mein 4-jähriger Sohn, Geräusche hört, die er nicht kennt, sagt er ‚die Panzer, die Panzer kommen!‘ Ich weiß nicht, wie ich ihm und meinen anderen Kindern helfen kann.“ Früher hatten sie Pläne für ihre Zukunft. Um Weihnachten herum besuchten sie Verwandte oder verreisten mit der ganzen Familie. „Jetzt haben wir nicht einmal mehr Pläne für morgen. Ich weiß jetzt schon, dass es dieses Jahr keinen Weihnachtsbaum geben wird, wir haben nicht mal genug Geld für eine richtige Mahlzeit. Wir werden uns in Decken einwickeln und eng zusammensitzen, da wir keine richtige Heizung haben“, erzählt Tatiana.

Tatiana erinnert sich genau an die Situation, als für sie feststand, dass sie ihre Heimat mit ihrem Mann und ihren Kindern verlassen muss: „Ich wollte nicht weggehen, aber wir hatten große Angst. Um uns herum wurde viel gekämpft und geschossen.“ Über kleine Dörfer und über Kyiv floh die Familie zu Tatianas Mutter in den Westen der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt war Tatiana im neunten Monat schwanger. „Jeden Tag auf der Straße hatte ich Angst, dass das Baby kommen würde.“ In einem kleinen Ort außerhalb von Kyiv finden sie ein Krankenhaus. „Ich war allein in einem dunklen Raum des Krankenhauses. Der Luftalarm und die Explosionen machten mir Angst. Jedes Mal, wenn sich eine Tür schloss, dachte ich, dass jemand schießt“, fährt Tatiana fort. Mit acht Kindern fing die Flucht an, mit neun Kindern erreicht die Familie das Haus von Tatianas Mutter. 

„Heute sind wir froh, dass wir in Sicherheit sind und es hier keine Bombenangriffe und Schießereien gibt, aber das Leben hier ist trotzdem schwierig", erzählt Tatiana. Es gibt nicht genug Platz für eine so große Familie. Vier Kinder teilen sich ein Bett. Sie sind immer noch auf der Suche nach Matratzen, auf denen sie schlafen können. In dem Haus, das sie zurücklassen mussten, hatte jedes Kind sein eigenes Bett. Zudem gibt es hier keine funktionierende Toilette. Sie benutzen ein Plumpsklo auf der Rückseite des Hauses. Wenn es genügend fließendes Wasser gibt, verwenden sie zum Waschen ein Plastikwaschbecken.

Familie im Schnee

Hauptsache warm

Wenn Tatiana an frühere Weihnachtsfeste zurückdenkt, wirkt es fast wie ein unwirklicher Traum. Damals stand sie stundenlang in der Küche, um das Festessen, das traditionell aus zwölf Gerichten besteht, zu kochen. Heute ist sie froh, wenn sie alle satt bekommt. „Mit neun Kindern ist es schwierig, genügend Vorräte zu finden. Für eine Mahlzeit brauche ich schon fast 1 kg Getreide, also versuchen wir, unsere Mittel zu begrenzen. Wenn ich genug Getreide finde, gibt es an Weihnachten vielleicht einen Brei. Ansonsten wird es wohl eine dieser Suppen, die mit heißem Wasser aufgekocht wird. Hauptsache etwas Warmes, das alle satt macht", sagt Tatiana.

Die reichgedeckten Tafeln, der Duft aus ukrainischen Spezialitäten und die freudigen Gesänge, sie sind einer neuen Realität gewichen. Das Weihnachtsfest in diesem Jahr wird ein anderes sein als die Jahre zuvor. „Das wichtigste ist allerdings, dass wir einander haben und alle zusammen in Sicherheit sind“, sagt Tatiana.

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