
Es ist 9 Uhr am Morgen. Iryna blättert in einem Ordner voller Unterlagen und macht sich Notizen. Sie ist Case-Managerin bei der CARE-Partnerorganisation Avalyst in der Region Donezk in der Ukraine und hilft Menschen unter anderem, ihre im Krieg verloren gegangenen Papiere wiederzuerhalten oder unterstützt bei Behördengängen. Bei dem Projekt, das von CARE und der Europäischen Union finanziert wird, erhalten Geflüchtete psychologische Hilfe und Schutz.
Wie die Menschen, die sie begleitet, musste auch Iryna aus ihrer Heimat fliehen. Den Schmerz, die Angst und Hilflosigkeit, die mit einer Flucht verbunden sind, hat auch sie durchlebt. „Im November 2024 musste ich meine Heimatstadt Kostiantynivka verlassen“, erzählt sie. „Der Beschuss wurde immer stärker, die Fenster in meinem Haus wurden herausgesprengt, das Dach wurde beschädigt und undicht. Als dann noch mein Hund gestorben ist, fasste ich kurz vor Weihnachten den Entschluss zu gehen. Allein. Ich habe keine Familie“, berichtet Iryna.
Hochschwanger allein auf der Flucht
Jeden Tag besucht Iryna abgelegene Dörfer rund um Donezk, berät am Telefon oder begleitet Menschen bei Behördengängen oder ins Krankenhaus. Die Fälle sind dabei sehr unterschiedlich. Mal reicht eine einfache Telefonberatung, mal begleitet Iryna Menschen über Monate. Die Geschichte einer jungen Mutter, die aus einem besetzten Gebiet geflohen ist, hat sie sehr berührt. „Sie war im siebten Monat schwanger, als sie zu uns kam. Sie hatte nichts außer ihrer Kleidung bei sich. Keinen Pass, keine Steuernummer, einfach nichts“, erzählt Iryna. „Wir haben ihr einen Platz in einer Entbindungsklinik organisiert und uns um ihre Papiere gekümmert. Die Frauen aus unserem Team haben Kleidung für die werdende Mutter und das Kind gesammelt. Letztlich kam sie bei Verwandten in Odessa unter, wo sie auch ihr Kind zu Welt brachte.“


Ohne Ausweis keine Behinderung?
Ein weiterer Fall ist der eines 17-jährigen autistischen Jungen, der gemeinsam mit seiner alleinerziehenden Mutter und zwei Geschwistern fliehen musste. Auf der Flucht sind seine Dokumente verloren gegangen und damit auch sein Zugang zu Medikamenten. „Um in der Ukraine einen Behindertenausweis zu erlangen, der Zugang zu Medikamenten ermöglicht, muss man sich einem speziellen Gutachten unterziehen. Und das kann dauern“, erklärt Iryna. Doch diese Zeit hatte der Junge nicht. Er benötigte die Medikamente schnell, weil sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechterte. „Die Mutter kam weinend zu uns. Sie war überfordert mit der Situation. Allein mit drei Kindern in einer neuen Stadt. Das war einfach zu viel.“
Iryna unterstützte die Familie und konnte ein zügiges Gutachten erreichen. Auch organisierte sie einen kostenlosen Betreuungsplatz. „Es war ein sehr schwieriger Prozess. Wir haben sogar ein Anwaltsteam hinzugezogen“, erzählt die Case Managerin. „Ohne Ausweis werden Menschen mit Behinderung behandelt, als gäbe es ihre Behinderung nicht. Ich sehe es als meine Aufgabe, diesen Menschen ihre Würde zurückzugeben. Sie sind Menschen mit Rechten und Fähigkeiten.“ Obwohl die Arbeit für Iryna anstrengend und emotional belastend ist, will sie nicht aufgeben. „Ich weiß, dass meine Arbeit sinnvoll ist. Wenn ich jemanden mit einem einfachen Personalausweis ein Stück Hoffnung zurückgeben kann, dann macht mich das glücklich“, erklärt Iryna und lächelt.
Trotz der Erschöpfung und des emotionalen Tributs verliert Iryna nie ihre Motivation. Im Gegenteil – jeder abgeschlossene Fall gibt ihr mehr Vertrauen in den Wert ihrer Arbeit. „Wenn jemand mit leeren Augen zu dir kommt, verloren und verzweifelt – und dich später mit neuer Hoffnung ansieht, ist das die größte Belohnung. Denn es bedeutet: Sie wissen, dass sie nicht allein sind. Und das ändert alles.“
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